Tagesschulen in der Schweiz: Vorsprung in den Sprachen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
In der Schweiz erfahren Tagesschulen einen deutlichen Aufschwung. Ein Interview mit Prof. Marianne Schüpbach von der Universität Bern.
Online-Redaktion: Was sind die Gründe für die starke Zunahme von Ganztagsschulen in der Schweiz?
Schüpbach: Es gibt mehrere Gründe: Einer ist die gesellschaftliche und politische Veränderung, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat. Dazu gehören die familialen Veränderungen.. Im Weiteren spielen Gleichstellungsargumente und wirtschaftspolitische Argumente eine zentrale Rolle für die Expansion von Angeboten.
Weniger zentral sind die Bildungsargumente. Von der einen politischen Seite wird immer wieder betont, dass die Ganztagsangebote etwas für Risikokinder seien, also für Kinder aus bildungsfernen Familien, Kinder mit Migrationshintergrund usw., während auf der anderen politischen Seite gleichstellungs- und bildungspolitische Argumente im Vordergrund stehen. Aus meiner wissenschaftlichen Perspektive bietet die Ganztagsschule die Chance für mehr soziale Gerechtigkeit, aber auch eine Möglichkeit für eine breitere Bildung der Kinder. Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass einiges in dieser Richtung möglich ist.
Online-Redaktion: Können Sie diese Ergebnisse in Grundzügen wiedergeben?
Schüpbach: Die deutschschweizweite Studie "EduCare - Qualität und Wirksamkeit familialer und ausserfamilialer Bildung und Betreuung von Primarschulkindern", die ich gemeinsam mit Prof. Dr. Herzog an der Universität Bern durchführe, wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt (vergleichbar mit der DFG in Deutschland). Bei dieser Studie handelt es sich um eine Längsschnittstudie am Eingang der Primarschulzeit vom ersten bis zum dritten Schuljahr.
Die Ergebnisse, die ich auf der Tagung in Rauischholzhausen präsentiert habe, vergleichen Tagesschulkinder - also Kinder, die das Ganztagsschulangebot nutzen - mit Kindern, die den Blockzeitenunterricht (vergleichbar mit den verlässlichen Grundschulen in Deutschland) sowie mit solchen, welche den traditionellen Halbklassenunterricht besuchen (insgesamt 521 Schülerinnen und Schüler). Darüber hinaus haben wir eine qualitative Vertiefungsstudie durchgeführt, in der wir untersucht haben, unter welchen Bedingungen sich eine Gruppe von Tagesschulkindern besonders gut entwickelt hat.
Online-Redaktion: Sind die schweizerischen Tagesschulen das Äquivalent zu den deutschen offenen Ganztagsschulen?
Schüpbach: Die Tagesschulen sind das Äquivalent zu Ganztagsschulen. Auch in der Schweiz gibt es den Unterschied zwischen offenen, teilgebundenen und gebundenen Ganztagsschulen (GTS). Es wird auch vom additiven (offene GTS) und vom integrierten Modell gesprochen, letzteres läuft über fünf Tage die Woche. Die Hauptergebnisse der Studie, die ich auch in Rauischholzhausen vorgestellt habe, zeigen, dass die Kinder, die die Ganztagsschule besuchen, nach den ersten zwei Schuljahren bessere sprachliche Kompetenzen auf als ihre Altersgenossen, die den Blockzeitenunterricht oder den traditionellen Halbklassenunterricht besuchen. Sie können Wörter besser und schneller lesen und verstehen.
Bei den mathematischen Kompetenzen schneiden die Tagesschulkinder hingegen weniger gut als die anderen Kinder ab. Die Tagesschulkinder schneiden zudem auch bei der sozialen und emotionalen Entwicklung sowie den Alltagsfertigkeiten besser ab. Das heisst, sie erweisen sich im Umgang mit Gleichaltrigen als kompetenter und zeigen ausgeprägter Verhaltensstärken - so können sie sich beispielsweise besser konzentrieren, haben weniger Angst und sind in neuen Situationen weniger nervös. Bei den Alltagsfertigkeiten können sie zum Beispiel eher die Schuhe selber schnüren oder Messer, Gabel und Messer angemessen benutzen.
Online-Redaktion: Hier gibt es eine Parallele zu den Ergebnissen der StEG-Studie?
Schüpbach: Ja, genau. Bei uns kommt aber hinzu, dass im Bereich der Sprachen ein deutlicher Vorsprung zu vermelden ist. Schließlich haben wir auch die pädagogische Qualität des Schulunterrichts wie des außerunterrichtlichen Teils berücksichtigt. Hier zeigt sich, dass sich der Besuch einer pädagogisch guten Tageschule besonders auf die Sprachkompetenzen und die sozioemotionale Entwicklung positiv auswirkt. Für die Sprachkompetenzen ist sowohl die Qualität des Unterrichts als auch der außerunterrichtlichen Betreuung entscheidend. Interessant war, dass die pädagogische Qualität sich jeweils für die Tagesschulkinder als wichtig erwiesen hat, die gute pädagogische Qualität jedoch für die anderen Untersuchungsgruppen nicht relevant war.
Online-Redaktion: Nach welchen Kriterien haben Sie die Qualität definiert?
Schüpbach: Bei den Tagesschulkindern hat sie sich aus zwei Messeinheiten zusammengesetzt: Wir haben die Unterrichtsqualität und bei den Tagesschulkindern zusätzlich die Qualität des außerunterrichtlichen Teils gemessen. Grundlage dafür waren die Bereiche einer Ganztagsangebotsskala (HUGS). Da gibt es verschiedene Hauptbereiche, die wir ausgewertet haben: Personalausstattung, Gesundheit und Sicherheit, Aktivitäten, Interaktionen, Strukturierung der pädagogischen Arbeit und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für das Personal. Wichtig ist, dass wir die pädagogische Qualität sowohl im Unterricht als auch im außerunterrichtlichen Teil durch Beobachtungen eingeschätzt haben.
Online-Redaktion: Konnten Sie in Ihrer Studie auch allfällige kompensatorische Wirkungen der Ganztagsschule feststellen?
Schüpbach: Ja, wir haben bei unserer Untersuchung auch den familiären Hintergrund der Kinder mit einbezogen. Hier zeigt sich - einmal mehr -, dass Kinder, die von ihren Eltern gefördert werden, bessere schulische Leistungen erbringen als Kinder, die von den Eltern kaum unterstützt werden - unabhängig davon, welche Schulform sie besuchen. Die Studie zeigt jedoch auch, dass die Tagesschule nachteilige Bedingung einer geringen familialen Unterstützung kompensieren kann, und zwar bei den Alltagsfertigkeiten und beim Selbstbild bezüglich der Fähigkeiten in Mathematik.
Online-Redaktion: Wo sind denn international am ehesten Vergleichsperspektiven angebracht? Und was verbindet Länder wie die Schweiz, Deutschland, Südkorea, Japan, Großbritannien, USA und Schweden?
Schüpbach: Deutschland und die Schweiz liegen von den Entwicklungen und dem Aufbau von Ganztagsschulen wohl am nächsten. Dies trifft besonders mit Blick auf die Dominanz der offenen Ganztagsschulen zu. Ich würde sagen, dass in Deutschland bildungspolitische Argumente wichtiger sind und dass deshalb für die Erreichung dieses Ziels mehr investiert wird als in der Schweiz. Eine Haupterkenntnis, die ich von der internationalen Tagung in Rauischholzhausen mitgenommen habe, ist, dass in allen genannten Ländern in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren ähnliche Entwicklungen stattgefunden haben.
In den USA sind die außerunterrichtlichen Angebote stärker in der Gesellschaft situiert. In den anderen Ländern - dies habe ich auf der Tagung gelernt - ist die Akzeptanz der Ganztagsangebote noch nicht so verbreitet. Es erweist sich in diesen Ländern als schwierig, das neue Feld der außerunterrichtlichen Angebote stärker zu unterstützen, während der Unterricht weiter hoch im Kurs ist. Das andere Feld muss gesellschaftlich an Akzeptanz gewinnen.
Ein weiterer Aspekt ist für mich, dass sich die Ganztagsschulforschung eher in einer Nische befindet. Das zeigt sich auch daran, dass es noch keine Zeitschrift gibt, in der spezifisch zu dieser Thematik Forschungsergebnisse publiziert werden. Spannend war für mich zu erfahren, dass in Schweden die Leisure-Time (Freizeit) stark in der Schule verankert ist. Überrascht hat mich jedoch in diesem Zusammenhang, dass diese Ganztagsangebote in Schweden noch kaum erforscht sind.
Online-Redaktion: Die Praxis ist also viel weiter als die Forschung?
Schüpbach: Ich habe es als erstaunliche Diskrepanz wahrgenommen, dass in Schweden die Ganztagsangebote gesellschaftlich sehr legitimiert sind, während die Forschung nur im Vorschulbereich betrieben und im Schulbereich vernachlässigt wird.
Online-Redaktion: Eine eigene Fachzeitschrift, wie sie Prof. Ludwig Stecher vorgeschlagen hat, kommt also gerade rechtzeitig?
Schüpbach: Das sehe ich so. Was ich zusätzlich wichtig finde, ist der Gedanke von Austauschprogrammen. Es wäre wichtig und bereichernd, den Austausch auf Professoren- und auf Postdoc-Ebene zu pflegen.
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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