Schweiz: "Was ist eine gute Tagesschule?" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Tagesschulen werden in vielen Kantonen der Deutschschweiz und im Fürstentum Liechtenstein ausgebaut. Eine Fachtagung an der PH Zürich zog Zwischenbilanz des Erreichten.

„Es gibt ganz unterschiedliche Bedingungen in der Schweiz, das fängt schon bei der Namensgebung für ganztägig organisierte Schulen an. Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind sehr groß, aber auch innerhalb eines Kantons.“ Das berichtete Dr. Luzia Annen, Zentrumsleiterin Schule und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule in Zürich über die Entwicklung der Tagessschulen in der föderalen Schweiz. „Von Kanton zu Kanton und sogar innerhalb eines Kantons variieren die Modelle.“

Doch dass es einen kantonsübergreifenden Informationshunger zu diesem Thema gibt, zeigte sich am 26. Januar 2018 in der Pädagogischen Hochschule Zürich. Rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der deutschsprachigen Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein waren zur Fachtagung „Tagesschule 2018 – Kinder und Jugendliche im Fokus“ angereist, um sich zu diesem Thema auszutauschen.

Außenansicht der Pädagogische Hochschule Zürich
© Pädagogische Hochschule Zürich

„Es gab mehr Anfragen als Plätze“, meinte Prof. Dr. Frank Brückel, dessen Hochschule die Veranstaltung zusammen mit dem Schweizerischen Verband für schulische Tagesbetreuung bildung + betreuung organisierte, in seiner Begrüßung. Barbara Omoruyi, die Präsidentin des Regionalverbandes bildung + betreuung in Zürich, zeigte sich zum Auftakt im Hörsaal der Hochschule von den vollen Reihen beeindruckt: „Ich habe über die Jahre an einigen überregionalen Veranstaltungen teilgenommen, aber einen solchen Zuspruch habe ich noch nicht gesehen.“

„Was ist eine gute Tagesschule?“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen laut Prof. Brückel, Leiter des Leistungsschwerpunktes Ganztagsbildung an der PH Zürich, überwiegend aus der Praxis. Viele treibt die Fragen um: Wie anfangen? Worauf achten? Manche haben ganz individuelle Anliegen. Ein Schulleiter erzählt in der Pause, er suche Anregungen für den pädagogischen Mittagstisch. Eine Sozialarbeiterin möchte Kontakte knüpfen, um ihre Angebote in Tagesschulen anzubieten.

Blick ins Publikum bei einer Fachtagung an der PH Zürich
Großer Andrang im Hörsaal der Pädagogischen Hochschule © PH Zürich

Für die Veranstalter stand die Frage „Was ist eine gute Tagesschule?“ im Vordergrund. Denn so unterschiedlich die Organisationsformen sind, gibt es auch keine verbindliche Qualitätsdefinition. Im vergangenen Jahr hat das Team um Frank Brückel den Qualitätsrahmen „Qualität in Tagesschulen / Tagesstrukturen (QuinTaS)“ veröffentlicht. Der soll Schulen unterstützen, die eigenen Tagesstrukturen auszubauen oder zu erweitern. Auf der Tagung stellte Brückel den Qualitätsrahmen und die Arbeitsmaterialien, an denen sechs Jahre gearbeitet worden ist, vor.

„Im Nachhinein habe ich bedauert, dass wir die Schülerinnen und Schüler nicht viel früher im Projektverlauf miteinbezogen haben“, bilanzierte er. Um mehr über die Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen in Erfahrung zu bringen, war ein Aufnahmeteam an der Tagesschule Baden im Schulhaus Ländli, einer öffentlichen Primarschule (1. bis 6. Klasse) mit integriertem Betreuungsangebot, und an der Sekundarschule Albisriederplatz unterwegs, um Schülerinnen und Schüler zu interviewen und dies in einem Film festzuhalten. Auch in der Tagesschule Schaan (Kindergarten bis 5. Klasse) im Fürstentum Liechtenstein und in der Tagesschule Zug wurden die Kinder und Jugendlichen zu ihren Tagesstrukturen befragt.

Verlässliche Strukturen und Rituale

Frank Brückel während seines Vortrags
Prof. Frank Brückel leitet den Schwerpunkt Ganztagsbildung an der PH Zürich © Redaktion www.ganztagsschulen.org

Während der Fachtagung wurden die vier fünfminütigen Kurzfilme gezeigt, in denen die Kinder und Jugendlichen verraten, was ihnen an ihrer Tagesschule gut und was ihnen weniger gut gefällt und was sie sich wünschen. Ein roter Faden: Die Schülerinnen und Schüler genießen Rückzugsorte wie Leseecke, Fußballplatz oder den Schulhof. „Ich lerne neue Sachen“ oder „Ich kann mit meinen Freundinnen spielen“, nennt eine Primarschülerin als Vorzüge. Während ein Junge pragmatisch meint: „Ich muss nicht immer meinen Schulranzen mitnehmen.“ Interessant: Kinder und Jugendliche bemängeln beispielsweise, dass es nicht sanktioniert werde, wenn klar aufgestellte Regeln von Mitschülern nicht beachtet werden. „Das kommt besonders dann vor, wenn unklar ist, wer die Aufsicht hat: Lehrer oder Betreuung“, erläuterte Frank Brückel.

Was eine gute Tagesschule aus Erwachsenensicht ausmacht und inwieweit sie sich zu deren Gelingen einbringen, berichteten am Vormittag vier Protagonisten dem Plenum. Für Maria Aebi, die Leiterin der Tagesschule Schwabgut in Bern, ist „Beziehung die Grundlage, auch für die Leistungsfähigkeit der Schüler“. Die Tagesschule müsse eine „haltgebende Organisation mit verlässlichen Strukturen, Ritualen und Regeln“ sein. Lehrkräfte und Betreuungspersonen sollten dabei „immer mitten drin sein“. Es müsse aber auch Räumlichkeiten für Bewegung und Rückzug geben. Sie selbst sieht sich als „Teil einer Stadt und einer Gemeinde, ich muss mich vernetzen und austauschen“.

Wertschätzende und fördernde Beziehungen

Andreas Baumann, ehemaliger Schulleiter der Sekundarschule Albisriederplatz, hat die Erfahrung gemacht, dass viele Schülerinnen und Schüler die Tagesschule skeptisch sehen, weil sie „Angst vor Kontrolle und vor dem Verlust ihrer Freiheit“ hätten. „Die Qualität geht vom Wohlbefinden der Schüler aus – aber wissen wir genug darüber?“, fragte Baumann. Die Jugendlichen hatten an seiner Schule beispielsweise klar zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht gemeinsam mit den Lehrkräften essen wollten. „Wir haben daraufhin ein offenes Restaurant eingerichtet, in das die Schülerinnen und Schüler kommen und gehen können, wann sie wollen.“ Einen wichtigen Rat gab er für die Organisation: „Bauen Sie keine Parallelstrukturen auf mit Konferenzen für die Lehrkräfte und Konferenzen für das Betreuungspersonal, sondern integrieren Sie beide.“

Für Rachel Guerra, Abteilungsleiterin im Schulamt des Fürstentums Liechtenstein, ist wichtig, dass die Tagesschule eine qualitativ gute „Mehrzeit“ bietet. Dazu werde der „scheinbare Widerspruch zwischen Lernen und Freizeit aufgelöst“. Die Ansichten, was eine gute Tagesschule sei, gingen zwischen und in einzelnen Schulen weit auseinander, so dass es nicht immer einfach sei, die Rahmenbedingungen abzustecken. „Ich versuche alle Beteiligten einzubinden. Wichtig sind positive, wertschätzende und fördernde Beziehungen.“

Expertengespräch auf dem Podium
V.l.: Maria Aebi, Gabriela Kohler-Steinhauser, Rachel Guerra und Andreas Baumann © PH Zürich

Gabriela Kohler-Steinhauser ist Präsidentin der Kantonalen Elternorganisation. Sie wünscht sich, dass die Eltern in den Prozess der Tagesschulentwicklung einbezogen werden. Eine Umfrage unter 270 Eltern im Jahr 2014 ergab, dass 71 Prozent die Ganztagsschule befürworteten und sich 68 Prozent für eine freiwillige Teilnahme aussprachen. Die Erledigung von Hausaufgaben, Angebote in Sport und Musik standen auf der inhaltlichen Wunschliste oben. „Wir erhoffen uns eine Struktur der Tagesschule, die den Arbeitstag der Eltern abdeckt, um das frühere Spießrutenlaufen zu beenden, das ich als erwerbstätige Mutter von drei Kindern in den Zeiten ohne Tagesschule noch erlebt habe“, so die Elternvertreterin.

Lokale Bedingungen berücksichtigen und Freiräume nutzen

Zwei Ratschläge, die Frank Brückel aus seinen Erfahrungen dem Auditorium mit auf den Weg gab, lauteten: „Berücksichtigen Sie die lokalen Bedingungen beim Aufbau Ihrer Tagesschule und ertappen Sie sich dabei, Freiräume zu erkennen!“ Dies wurde in einem der 13 Workshops am Nachmittag aufgegriffen. In „Das Kind steht im Zentrum – Einblick in eine Bildungslandschaft“ schilderte Annette Graul vom Erziehungsdepartement Basel-Stadt die Erfahrungen aus drei von 2013 bis 2016 laufenden Pilotprojekten.

„Wir haben die formalen Bildungsakteure vernetzt, um eine bessere Verknüpfung der Etappen einer Bildungsbiografie zu erreichen und die Übergänge fließender zu gestalten. Und wir haben formale, non-formale und informelle Bildungsakteure horizontal vernetzt. Jedes Kind soll sich in seiner Umgebung sicher bewegen, Angebote nutzen können und sinnvoll begleitet werden.“ Zum Beispiel ist in dem aktuell noch bis 2018 laufenden Projekt „Bildungslandschaft Bläsi“ ein Netzwerk entstanden, in dem sich Eltern, Kindergarten- und Primarlehrpersonen, Freizeitanbieter, Jugendarbeiter oder Sportvereinsleitungen verbinden, sich gegenseitig informieren, einander unterstützen und gemeinsam ein Ziel verfolgen: die individuelle Förderung und eine gerechte Chance auf Bildung für alle.

Vernetzung sei keine primär finanzielle Frage, wie Teilnehmer skeptisch im Workshop vermuteten. Die größte Herausforderung sieht Annette Graul vielmehr darin, bei einer hohen Personalfluktuation die Kontinuität in der Kooperation zu gewährleisten. Sie räumte ein, dass nicht alle sich für die Bildungslandschaft interessieren oder engagieren. Es sei am besten, mit denen zu starten, die mitmachen wollen.

„In der ersten Phase wollte die Schulleitung alles alleine machen“

Schülerinnen und Schüler auf dem Schulhof beim Basketballspiel
© Britta Hüning

Wie man mit aufkommenden Widerständen von Lehrkräften oder Eltern umgeht, war Thema im Workshop „Schritt für Schritt zur Tagesschule“. Dort stellte die Primarschule Balgrist Kartaus aus Zürich ihre Erfahrungen vor. Nachdem die Schule am Pilotprojekt „Tagesschule 2025“ der Stadt Zürich teilnehmen wollte und dazu ein Konzept erarbeitete, kam es im Frühjahr 2015 zu einer denkwürdigen Abstimmung im Kollegium mit einem Ergebnis von 27 zu 27 Stimmen. Dass Schulleiter Marco Jäger mit seiner Stimme den „Pro“-Ausschlag gab, reichte zur Teilnahme am Pilotprojekt nicht aus.

Marco Jäger gab sich nicht geschlagen und nahm einen neuen Anlauf. Er zog dabei aber die Lehre aus der gescheiterten ersten Runde: „In der ersten Phase wollte die Schulleitung alles alleine machen. Nun haben wir alle Entscheidungen, das Konzept und das Strategiepapier von allen Gremien abnehmen lassen – von der Steuergruppe bis zum Elternrat. Und wir haben uns genügend Zeit genommen.“ Es benötige eine transparente und umfangreiche Kommunikation. Die Anstellungsbedingungen für Lehrpersonen müssten klar kommuniziert und vereinbart werden. Und nicht zuletzt: „Die fachliche Beratung seitens der Hochschule hat uns geholfen, wie das gute Unterstützungsmaterial von QuinTaS“.

Kategorien: Bundesländer - Berlin

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