Paris/Frankfurt oder die vielen Gesichter der Sprache : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Mainz, Paris und nun Frankfurt am Main: Das 3. Deutsch-Französische Expertentreffen begab sich auf die Suche nach effektiven Verfahren der Sprachförderung - im hessischen Amt für Lehrerbildung und in Frankfurter Schulen. 

Der eigentliche Protagonist des 3. Deutsch-Französischen Expertentreffens war die Sprache. Genauer, die "Förderung der Sprachkompetenzen von Kindern und Jugendlichen in Ganztagsschulen", so der offizielle Titel der Veranstaltung. Es gibt so viele Sprachen wie Menschen - im Grunde genommen. Doch 82 Millionen Menschen in Deutschland sprechen - wie rund 60 Millionen Menschen in Frankreich - eine gemeinsame Landessprache mit vielen regionalen Farbschattierungen. Landesprachen als Schrift- und Hochsprachen werden seit der Entstehung der Nationalstaaten vor allem in den Schulen vermittelt.

Protagonist mit vielen Gesichtern

Der Protagonist hat viele Gesichter. Zum Beispiel ein künstlerisches: so erlebte der Teilnehmerkreis des 3. Deutsch-Französischen Expertentreffens anlässlich des Empfangs im Frankfurter "Literaturhaus" am 21. Februar einen Einblick in die literarische Szene. Dort behaupteten sich neben dem deutsch-französischen polyphonen Tischgespräch der geladenen Experten interessante Stimmen an Nachbartischen: Leute der Frankfurter Kultur- und Literaturszene, die den spontanen Dialog mit den französischen Gästen wagten.

Der Erwerb von Sprach- bzw. Lesekompetenz ist ein Auftrag von Schule ersten Ranges. Denn Sprache, Schriftsprache zumal, ist eine mühsam zu erlernende Kulturtechnik, die heutzutage auf die Wissensgesellschaft vorbereitet und die Verständigung zwischen den Nationen und Kulturen erst möglich macht.

Nicht zuletzt die PISA-Studien wiesen in Frankreich und Deutschland auf erhebliche Defizite in der Sprach- und Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler hin. Deshalb war der Protagonist des 3. Deutsch-Französischen Expertentreffens die Sprachförderung "nach PISA".

Das Thema Sprachförderung umfasste vom 22. bis 23. Februar 2006 einen Austausch über neue Ansätze zur Sprachförderung im Amt für Lehrerbildung in Frankfurt am Main und die Vorstellung neuester wissenschaftlicher Ergebnisse zur Sprachförderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund durch Prof. Eckhard Klieme, Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF).

Es umfasste darüber hinaus den Besuch verschiedener Ganztagsschulen (Grundschule, Gymnasium, Gesamtschule) sowie einer Vorklasse für die zukünftigen ABC-Schützen. In anderen Worten: Das Kennenlernen unterschiedlicher Systeme und Ansätze der Sprachförderung in Deutschland und Frankreich erwies sich als der Beginn eines fruchtbaren interkulturellen Dialogs.

Sprachförderung in Hessen nach Bologna

Wirkliches Kennenlernen setzt Offenheit voraus - und Neugier für das Andere. Beide Seiten, die französische und die deutsche, zeichneten sich durch die Bereitschaft aus, vom jeweils anderen hinzuzulernen. Deutlich wurde dies an der Vorstellung neuer Ansätze zur Sprachförderung im Amt für Lehrerbildung in Frankfurt.

Teilnehmer des Expertentreffens vor dem Römer
Die deutsch-französischen Experten während einer Stadtführung am Frankfurter Römer

Bereits bekannte und einige neue Gesichter prägten den Teilnehmerkreis des 3. Deutsch-Französischen Expertentreffens: So war die französische Seite mit Elisabeth Fröchen vom nationalen Bildungsministerium und Catherine Klein, Inspektorin für die Sekundarstufe in Paris, vertreten. Die französische Botschaft entsandte Bernard Aubert, den stellvertretenden Leiter der Kulturabteilung. Eric Pateyron, Schulleiter der Grundschule Ecole Honoré de Balzac Nanterre, repräsentierte die Schulpraktiker.

Zur deutschen Delegation gehörten Hans-Konrad Koch, Leiter der Unterabteilung "Bildungsreform" im Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF), Petra Jung, Leiterin des Referats "Zukunft Bildung", Petra Gruner, Referentin und Xavier Leroux, Hospitant im BMBF im Rahmen des "Master of European Governance and Administration"

Das Land Hessen repräsentierten Wolf Schwarz, Referatsleiter "Europäische und internationale Zusammenarbeit", und Jörn Koppmann, Referent im Hessischen Kultusministerium. Rheinland-Pfalz wurde durch Heinz-Willi Räpple, Referent im Referat "Ganztagsschule" des Ministeriums für Bildung, Frauen und Jugend (MBFJ), sowie von Helmut Wagner, Schulleiter der Grund- und Hauptschule Mainz-Mombach vertreten.

Sprachförderung online

Zwischenstaatliche Austauschplattformen wie das Deutsch-Französische Expertentreffen, das ja ursprünglich vom französischen Erziehungsministerium angeregt wurde, gedeihen dann besonders gut, wenn die Beteiligten den einmal begonnenen Erfahrungsaustausch an unterschiedlichen Orten zur Illustration komplexer Systeme der Sprachförderung verwenden. Dazu eignete sich die anschließende Diskussionsrunde.

"Je früher, desto besser", lautet die Formel für Keidis-Benkert, wenn es um die Einrichtung von sprachlichen Vorlaufkursen geht. "In Deutschland ist der Schulerfolg entscheidend davon abhängig, über welche Sprachkompetenzen die Kinder verfügen", erinnerte Wolf Schwarz. Schulsprache sei mehr als Umgangssprache, betonte Hans-Konrad Koch. Gerade die an der Schriftsprache orientierte Schulsprache überfordere viele Schülerinnen und Schüler.

Sprachförderung in Hessen goes online: Am Beispiel des Projektes "Diagnostik online - Modul Spracherwerb" demonstrierte Margret Wendling, welche ungeahnten Dinge das Internet möglich macht: "Herzstück unseres E-Learning-Angebotes ist das Erlernen von Diagnostik". Experten im Amt für Lehrerbildung beantworten E-Mail-Anfragen zum Thema Diagnostik innerhalb von 24 Stunden.

Das online gestützte Diagnoseverfahren erlaube es ferner, Diagnoseverfahren für den Erwerb der Schriftsprache zu entwickeln, mit dem Ziel, einen Förderplan für jedes einzelne Kind einer Klasse zu erstellen. Wendling und ihr Kollege Josef Grubmüller zeigten, wie die Analyse der Schreibentwicklung an Eigentexten bestimmte Fehlerarten von Kindern zutage fördere. Grubmüller folgerte: "Wir sind zuversichtlich, dass die Lücken, die PISA erhoben hat, durch die Sprachförderung geschlossen werden können."

Schulleiter Helmut Wagner hakte in der Diskussion nach: "Wie groß ist die Akzeptanz des Online-Angebotes bei den Kollegen an den Schulen vor Ort?" "Sehr groß", antwortete Margret Wendling. Das Angebot müsse nach der Erprobung durch Multiplikatoren in staatlichen Schulämtern in die Breite gebracht werden. Natürlich könne man nichts erzwingen, vielmehr müsse man durch Überzeugung wirken. Da die Lehrerinnen und Lehrer in Hessen aber für jedes Schulkind Förderpläne erstellen müssten, bekämen sie - mit der in Nordrhein-Westfalen entwickelten Förderdiagnostik - eine echte Unterstützung an die Hand.

DESI: Die Frankfurter Expertise

Das Thema, wie Sprachkompetenzen in der Schule am effektivsten erhoben und gefördert werden können, war jüngst Gegenstand der wissenschaftlichen Studie DESI. Die Studie "Deutsch Englisch Schülerleistungen international" (DESI) wurde im Auftrag der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) durchgeführt.

Unter dem Titel "Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandfeststellung als Grundlage für die frühe individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund" stellte der Direktor des DIPF, Prof. Dr. Eckhard Klieme, erste Ergebnisse dieser wegweisenden wissenschaftlichen Studie für die unterschiedlichen Schulformen vor. Gut 11.000 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 wurden zu Beginn und zum Ende des Schuljahres 2003/04 befragt und getestet.

Die Befragung wurde durch Lehrkräfte, Schulleitungen und Eltern ergänzt. "Als bundesweit repräsentative Untersuchung und durch ihre breit gefächerte Anlage ermöglicht die Studie differenzierte Aussagen über Lehr-Lern-Prozesse und den Erwerb sprachlicher Kompetenzen, die für Unterrichtspraxis, Lehrerbildung und Bildungspolitik gleichermaßen wichtig sind", heißt es in einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der DESI-Studie.

Von bundesweiter Aussagekraft

Die Bewertung des Grades an Beherrschung der deutschen und englischen Sprache in Wort und Schrift, also die Feststellung jener Sprachkompetenzen, von denen der schulische Erfolg entscheidend abhängt, sind keine Nebengröße des Unterrichtsgeschehens. Sie sind - Klieme zufolge - wesentlicher Teil des Unterrichts: "Diagnosekompetenz ist Teil der Unterrichtspraxis, der zu Lernfortschritten führt." Die DESI-Studie liefert nun erstmals empirische Befunde zum Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund. Sie liefert auch Messinstrumente für sprachliche Kompetenzen in insgesamt 15 unterschiedlichen Kompetenzbereichen.

Schulen müssten an den zentralen Schaltstellen wichtige Instrumente zur Profildiagnostik bereitstellen. Die Sprachstandsfeststellung des DIPF habe sich auch auf den Europäischen Referenzrahmen und die Bildungsstandards bezogen, sodass die Feststellung des Leistungsstands im Englischen und Deutschen möglich wurde. Nicht zuletzt die PISA-Studie habe als Herausforderung die inhaltliche Beschreibung unterschiedlicher Kompetenzniveaus mit sich gebracht: "Wir haben die inhaltliche Charakterisierung der Niveaus in einem komplexen Rahmen empirisch belegt", betonte Klieme.

Als Ergebnis hielt der Wissenschaftler fest: Das Leistungsprofil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund sei deutlich schwächer als das jener Kinder und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. In anderen Worten: "Schülerinnen und Schüler, die Deutsch nicht als Erstsprache hatten, schnitten bei der Feststellung ihres Sprachstands deutlich schlechter ab."

Wissenschaftliches Neuland

Darüber hinaus lässt die DESI-Studie Aussagen über geschlechtsspezifische Unterschiede beim Erwerb der Sprachkompetenzen zu. Bestätigt wurden Erkenntnisse über den Einfluss des sozialen und familiären Hintergrunds: Demnach hat der sozioökonomische Status in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik einen messbaren Einfluss auf die Lernfortschritte. Ein erstmals empirisch belegter Befund ist der, dass Schulen, die eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern pflegen, stärkere Leistungszuwächse bei den Kindern und Jugendlichen erzielen.

Mit DESI wurde die Sprachförderung an Schulen nicht nur wesentlich genauer vermessen, als es bislang möglich war. Die Studie trägt auch gewissermaßen dazu bei den Sprachunterricht an den deutschen Schulen systematischer als zuvor auf die Füße zu stellen. Die nachfolgende intensive Diskussion der deutsch-französischen Experten war ein Beleg für das Potenzial der von Klieme vorgestellten DESI-Studie.


Lesen Sie mehr dazu im zweiten Teil unseres Berichtes.

 

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