NEO ER - Netzwerk zur außerschulischen und extracurricularen Bildungsforschung : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Unter dem Titel "Network on Extracurricular and Out-of-School Time Educational Research (NEO ER)" wurde auf Initiative der Universität Gießen und des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung ein internationales Forschungsnetzwerk gegründet.
"Wenn die Ganztagsschule die Lösung ist, was ist das Problem?" Pointierte Fragen, wie sie der englische Erziehungswissenschaftler Prof. Alan Dyson (Universität Manchester) auf der internationalen Tagung zum Thema After-School-Programme auf Schloss Rauischholzhausen stellte, können die Perspektive schärfen und den Forscherimpetus antreiben. Ist der technologische, wirtschaftliche und soziale Wandel im 21. Jahrhundert womöglich das Problem, auf das die Bildungssysteme und die Bildungsforschung die Antworten suchen? Allerdings wäre dieser nicht ganz neu.
Neu ist jedoch die Tatsache, dass das ansonsten recht beharrliche Bildungswesen infolge von PISA von einem raschen Wandel erfasst wurde. Schule ist heutzutage damit überfordert, ihren Bildungsauftrag allein zu erfüllen: Sie braucht neue Konzepte und außerschulische Partner. Die Expansion der außerschulischen Angebote ist ein deutlicher Indikator dafür, dass die Schule auf professionelle oder bürgerschaftliche Unterstützung angewiesen ist. Die USA gehörten zu den ersten Ländern, die die Bedeutung der nachmittaglichen After-School Programme erkannten und diese über das National Institute on Out-of-School Time (NIOST) durch eine kontinuierliche Evaluation begleiteten.
Kein Wunder, flossen doch immer mehr öffentliche und private Mittel in diese Maßnahmen. Dabei ist festzuhalten, dass sich die Entwicklungen weltweit ähneln. Doch obwohl sich die Praxis außerschulischer und extracurricularer Angebote international immer weiter durchsetzte, stellten Forscherinnen und Forscher bereits im November 2007 auf einer internationalen Konferenz in Busan in Südkorea fest, dass die Erforschung ihrer Qualität und pädagogischen Wirkungen trotz einzelner viel versprechender Ansätze noch in den Anfängen steckt.
Nach der Initiierung des internationalen Austauschs in Busan wurde die Diskussion vom 23. bis 25. November 2010 auf Schloss Rauischholzhausen, einer Tagungsstätte der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), fortgesetzt. Gastgeber des vom BMBF geförderten internationalen Netzwerktreffens waren Prof. Dr. Ludwig Stecher, der einen Lehrstuhl für empirische Bildungsforschung an der JLU innehat, gemeinsam mit Prof. Dr. Jutta Ecarius (ebenfalls JLU) und Prof. Dr. Eckhard Klieme (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung - DIPF). Organisiert wurde die Tagung übrigens von Jessica Woods und Marie-Luise Dietz (JLU).
Das international begehrte kulturelle Kapital
An der dreitägigen Veranstaltung beteiligten sich Forscherinnen und Forscher aus acht Ländern - Deutschland, Südkorea, Japan, USA, Schweiz, Schweden, Niederlande und Großbritannien. Die Gäste und Teilnehmer des Netzwerktreffens waren: Prof. Ingrid Gogolin (Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Universität Hamburg), Prof. Jutta Ecarius (Institut für Erziehungswissenschaft, JLU), Prof. Eckhard Klieme (DIPF), Dr. Natalie Fischer (DIPF), Dr. Thomas Bäumer (Lehrstuhl für Elementar- und Familienpädagogik, Otto-Friedrich-Universität Bamberg), Prof. Dr. Falk Radisch (Universität Wuppertal), Prof. Hans-Uwe Otto (Universität Bielefeld), Prof. Joseph Mahoney (Department of Education, University of California), Dr. Denise Huang (National Center for Research on Evaluation, Standards, and Student Testing - CRESST, Los Angeles), Prof. Manuela du Bois-Reymond (Faculty of Social and Behavioural Sciences, Leiden University), Prof. Marianne Schüpbach (Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern), Prof. Alan Dyson (Centre for Equity in Education, School of Education, University of Manchester), Prof. Yoshiaki Yanagisawa (Department of Education, Kagawa University), Dr. Björn Haglung (Department of Education, Faculty of Education, Universität Göteburg), Prof. Sang Hoon Bae (Sungkyunkwan University, Seoul).
In der Informationsgesellschaft ist Bildung ein wesentlicher Teil des Lebens, was sich laut Stecher bei allen vertretenen Ländern in einer deutlichen Zunahme des Bildungsniveaus und in einer starken Zunahme außerschulischer Angebote zeige. "Die Bedeutung von Bildung und kulturellem Kapital nimmt gegenüber dem ökonomischen Kapital zu." Die Schule ist immer weniger der alleinige oder zentrale Ort, an dem kulturelles Kapital erworben wird. After-School Programme haben in den USA laut Mahoney zwischen 1991 (1 Millionen TeilnehmerInnen) und 2009 (8 Millionen TeilnehmerInnen) stark zugenommen.
Die große Vielfalt der internationalen After-School-Programme
Mit Ausnahme der USA, wo die empirische Forschung die Qualität und positive Wirkung außerschulischer Nachmittagsangebote unter Beweis stellte, musste sich die Bildungsforschung in den anderen Ländern auf ganz neues Terrain einlassen. Eine Besonderheit in Deutschland war, dass das Bundesprogramm IZBB zum flächendeckenden Ausbau der Ganztagsschulen seit 2003 mit dem Forschungsauftrag verbunden war, über die "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG) u. a. die Entwicklung der außerunterrichtlichen Ganztagsangebote zu erforschen.
Dementsprechend erfuhr die Längsschnittstudie StEG auf der Konferenz in Busan besondere Beachtung, Prof. Ludwig Stecher, der die Studie in Südkorea als ihr damaliger Koordinator vorgestellt hatte, bemerkte: "StEG setzt international Maßstäbe: Alle Kongressteilnehmer wünschten sich für ihre Länder vergleichbare Studien." Das BMBF hat von 2005 bis 2010 rd. 12 Mio. Euro in die Begleitforschung zum Ganztagsschulprogramminvestiert, in deren Mittelpunkt die StEG-Studie steht - e"ine Investition, die sich aus Sicht von Stecher lohnt. Dementsprechend nahm die Darstellung der StEG-Studie durch Dr. Natalie Fischer und Prof. Dr. Eckhard Klieme und einiger ihrer zentralen Befunde auch während der Gießener Tagung eine wichtige Stellung ein. Die Vielfalt der Ganztagsangebote, die wir in Deutschland finden, gibt es auch auf internationaler Ebene. "Für die deutsche Diskussion ist wichtig, dass es trotz aller Unterschiede der Bildungssysteme in vielen Ländern ähnliche Fragen und Probleme gibt", so Stecher.
Das "California After School Education and Safety" Programm
After-School-Programme werden in den USA bundesweit, aber auch im Rahmen der jeweiligen Bundesstaaten aufgelegt und zugleich in ihrer Effektivität wissenschaftlich überprüft. Denise Young stellte vor diesem Hintergrund "California After-School-Education and Safety" (ASES) vor. Das Programm, das Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur 9. Klasse unterstützt, ist das Ergebnis einer Wählerinitiative aus dem Jahr 2002. Es wird seit 2007 mit jährlich 550 Mio. Dollar gefördert. ASES schafft den Rahmen für eine Kooperation zwischen den Schulen und Gemeinden und bietet lokale Unterstützung, um die Betreuung der Schülerinnen und Schüler vor und nach der Schulzeit zu gewährleisten und ihnen eine sichere und konstruktive Umgebung bereitzustellen.
Das Programm, das auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern, Kindern und Jugendlichen, Schulakteuren und Regierungsvertretern setzt, beruht auf zwei Pfeilern: Erstens dem Bereich Erziehung und Bildung, der Unterstützung bei Hausaufgaben, Förderung der Lesekompetenz, Mathematik, Geschichte und Sozialkunde vorsieht. Auf der anderen Seite beinhaltet der Bereich Erziehung und Enrichment eine breite Palette von physisch, sozial oder emotional orientierten Angeboten wie Gesundheitserziehung, Sport, kulturelle Bildung, Berufsorientierung oder kommunales Service Learning.
ASES muss sich einer jährlichen Evaluation stellen, deren Ergebnisse mit darüber entscheiden, ob das California Department of Education sich für eine Verlängerung des Programms entscheidet. Im Rahmen der prozess- und ergebnisorientierten Evaluation wird beispielsweise danach gefragt: "Wie wird das Programm implementiert? Welcher Teil des Programms ist wirkungsvoll?" Gemessen wird ferner, in welchem Ausmaß das Programm von den Kindern und Jugendlichen wahrgenommen wird, ob es zu einer Verbesserung der Schulleistungen führt oder zu anderen positiven Veränderungen.
Laut Denise Young haben sich durch das After School Programm nicht nur die Testergebnisse und Abschlüsse der Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Teilhabe an Bildungs- und Kulturangeboten verbessert. Es gebe auch mehr Jugendliche, die die Schule abschließen wollen. Nicht so positiv sei allerdings die geringe Elternpartizipation zu beurteilen. "Die After-School-Programme stehen nicht auf festen Boden. Wenn der politische Wind sich ändert, geraten sie leicht unter politischen Druck", gab Mahoney zu bedenken.
Japan und Südkorea: After-School-Programme wirken Nachhilfeinstituten entgegen
Während in den USA die sozialen Probleme für die Expansion der After-School-Programme eine zentrale Rolle spielen, sollen diese in Japan und Südkorea vor allem den Nachhilfeschulen entgegenwirken. In beiden Ländern streben weit über zwei Drittel der Schülerschaft die Aufnahme an einer Hochschule an. Um die außergewöhnlich hohen schulischen Anforderungen und Prüfungen bewältigen zu können, finanzieren die Eltern private After-School-Angebote, die den Schultag häufig bis in die späten Abendstunden um 22 Uhr ausdehnen.
"Sie haben eine echte Ganztagsschule, wir etwas zwischen Halbtags- und Ganztagsschule", kommentierte Ludwig Stecher die beiden Bildungssysteme. Öffentliche After-School-Programme sollen der zunehmenden sozialen Schieflage und dem Leistungsdruck entgegenwirken. Insbesondere in Südkorea wurden - vergleichbar mit Deutschland - positive sozio-emotionale Wirkungen der Ganztagsangebote erhoben. Allerdings seien die Effekte der Ganztagsangebote mit Blick auf die Schulleistungen eher schwach: "Sie verbessern sich nicht, werden aber auch nicht schlechter", meinte Prof. Sang Hoon Bae von der Sungkyunkwan University in Seoul. Jedoch könne die evidenzbasierte Forschung die öffentlichen Schulen in Südkorea durchaus revitalisieren.
Großbritannien und Schweden: kaum messbare Wirkungen der Ganztagsangebote
"In Großbritannien ist Schule mehr als Unterricht, Prüfungen und das Vergeben von Zertifikaten", führte Alan Dyson von der Universität Manchester aus. Alle Schulen müssen als sogenannte "Extended Schools" außerunterrichtliche Angebote in den Bereichen Freizeit, Family Learning, Sport, Hausaufgabenhilfe etc. stellen. Ferner sind alle Schulen mit den Kommunen in Form sozialer, medizinischer und kommunaler Dienste vernetzt. Diese spezifische komplexe Ausgangslage erschwert aber die Evaluation der Extended Services: "Uns liegen keine evidenzbasierten Daten über signifikante Effekte vor", berichtete Dyson. Allenfalls gebe es vage Anhaltspunkte für positive Effekte kultureller Art oder auf der Ebene des Gemeinwesens.
Schweden hat mit dem Aus- und Aufbau von Freizeitzentren (seit den1960er Jahren) einen eigenen Weg eingeschlagen, der die Bedürfnisse der Kinder nach Erholung sowie die Förderung der sozialen Kompetenzen in den Mittelpunkt stellt und ihnen ein breit gefächertes Spektrum an Ganztagsangeboten von Sport, Kultur und Spiel eröffnet. "Allerdings haben wir es versäumt, die Effektivität unserer After-School-Programme zu untersuchen, so wie dies in Deutschland mit StEG geschehen ist", berichtete Dr. Björn Haglung (Department of Education der Universität Göteburg).
Die ausführlichen Länderberichte, die das Ziel verfolgten, "die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die unterschiedlichen Zugangswege zu informieren", legten das Fundament für das nächste Ziel der Tagung. Nachdem sich herausgestellt habe, dass es "in der Schulentwicklung kein Modell gibt, dass man kopieren kann, weil die unterschiedliche Dimensionen wie Lehrerkooperation, Lehrerausbildung, Kooperation mit dem weiteren pädagogischen Personal, Familie, in jedem Land unterschiedlich konfiguriert sind", schritt man zur nächsten Tat: der Gründung eines Internationalen Forschungsnetzwerkes zu After-School-Programmen.
Die internationale Forschung auf soliden Boden stellen
Dieses solle den Austausch innerhalb der internationalen Forschung voranbringen und relevante Forschungsinstrumente für die Effektivitätsforschung entwickeln, die es ermöglichten, Genaueres über die Wirkung von After-School-Programme auszusagen. Vor der Gründung und Initiierung einer Zeitschrift, die, so Ecarius im Zusammenhang mit dem Netzwerk geplant ist, wird aber ein Reader veröffentlicht, in dem die Ergebnisse der Tagung festgehalten werden sollten.
Neben der Fachzeitschrift wolle man die Idee einer Buchreihe zum Thema After-School-Programme im Auge behalten. Nachdem sich alle einig waren, dass das Netzwerk einen regelmäßigen internationalen Austausch organisieren solle, wurde als Ort der nächsten Internationalen Konferenz im Jahr 2013 nochmals Gießen festgelegt. Einig war man sich mit Alan Dyson auch darin: "Die komparative Dimension ist wichtig, denn wir brauchen den Dialog über unterschiedliche Perspektiven: Man lernt schließlich aus Unterschieden."
Kategorien: Kooperationen - Kinder- und Jugendhilfe
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