Ganztagsschulen in Südkorea und Deutschland : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Ganztagsschulen sind auch in Südkorea eine bildungspolitische Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel. Senior Researcher Yeon-Seok Kim vom Ministry of Education, Science and Technology und der Leiter des Korean Educational Development Institute Dr. Hong-Won Kim  im Interview.

Online-Redaktion: Was war der Anlass Ihres Besuches in Hessen?

Yeon-Seok Kim: Vor fünf Jahren wurde das Ganztagsschulprogramm in Deutschland gestartet und seitdem hat sich die Zahl der Ganztagsschulen sprunghaft erhöht. Das scheint aus unserer Sicht der gemeinsame Erfolg des Bundes und der Länder zu sein. Die südkoreanische Delegation, die sich aus Angehörigen des Korean Educational Development Institute (KEDI), aus Schulinspektoren, Schulleitern und Lehrkräften zusammensetzt, wollte sich über diese Entwicklung vor Ort ein eigenes Bild machen.

Online-Redaktion: Sie hatten Gelegenheit in Frankfurt am Main drei verschiedene Ganztagsschulen zu besuchen. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?

Dr. Hong-Won Kim: Wir waren erstaunt darüber, dass es viele Ähnlichkeiten hinsichtlich der Ganztagsschulen in Deutschland und in Südkorea gibt. Sie betreffen primär die Organisation der Nachmittagsangebote. Es gibt aber auch große Unterschiede zwischen Deutschland und Südkorea. So ist die Belastung der Lehrkräfte in Deutschland erheblich geringer als in Südkorea. Zum Beispiel übernehmen die Lehrkräfte in Südkorea viele Verwaltungsaufgaben für die Ganztagsschule. Die Unterstützung für Lehrkräfte ist in Deutschland besser als Südkorea.

Online-Redaktion: Gehen wir näher auf die Ganztagsschulen in Südkorea ein: Was waren die Gründe für die Einführung der Ganztagsschulen?

Yeon-Seok Kim und Dr. Hong-Won Kim
Yeon-Seok Kim, senior educational researcher im Ministry of Education, Science and Technology sowie der Leiter des Korean Educational Development Institute (KEDI), Dr. Hong-Won Kim

Yeon-Seok Kim: Südkorea erlebte im Jahr 1997 eine ernste Finanzkrise, die zum Eingreifen von Internationaler Währungsfonds (IWF) und der Weltbank führte. Die Auflagen für die Restrukturierung des südkoreanischen Finanzsektors führten nicht nur zu wachsenden sozialen Ungleichheiten, sondern auch zu Einschnitten im Bildungsbereich. Deren Auswirkungen bekamen insbesondere die sozial Schwachen und die verarmte Bevölkerung auf dem Land zu spüren.

In Südkorea gibt es viele Eltern, die beide arbeiten müssen, Tendenz steigend. Deshalb braucht das Land eine ganztägige Betreuung für ihre Kinder. Ein Problem dabei sind die wachsenden Kosten für den Privatunterricht nach der Schule. Die südkoreanische Regierung wollte diesen Teufelskreislauf von generationenübergreifender Armut und Chancenungerechtigkeit unterbrechen und noch weitere soziale Probleme lösen. Damit hat sich die südkoreanische Regierung viel vorgenommen. Eine wichtige bildungspolitische Maßnahme war dabei der Ausbau von Ganztagsschulen.

Online-Redaktion: Sie sprachen von den Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Südkorea: Wie muss man sich die Organisation der Ganztagsschulen in Südkorea vorstellen?

Yeon-Seok Kim: In Südkorea bieten die Schulen viele unterschiedliche Programme an. Die Schülerinnen und Schüler können sich die Angebote selber auswählen, da sie individuelle Stundenpläne haben. Mittlerweile nehmen 50 Prozent der Schülerschaft  daran teil, und die Tendenz ist seit drei Jahren steigend.

Abgesehen von der Organisation der Ganztagsschulen besitzt Südkorea ein ganz anderes Schulsystem: So gliedert sich das Schulsystem in eine sechsjährige Grundschule (chodeunghakgyo), eine dreijährige Mittelschule (junghakgyo) sowie eine dreijährige High School (godeunghakgyo). Der Besuch der Grundschule und der Mittelschule ist verpflichtend, das heißt: Bei uns lernen alle Kinder von Klasse eins bis neun gemeinsam.

Die Mittelschüler müssen viel Privatunterricht in Anspruch nehmen, da die Anforderungen an die Schulleistungen sehr hoch sind. Sobald die Schülerinnen und Schüler die Schwelle zur Mittelschule und High School erreichen, müssen sie allerdings ein noch höheres Lernpensum bewältigen.

In der Grundschule sieht es noch anders aus: Hier haben die Kinder weniger Druck und sie genießen am Nachmittag verschiedene Programm in den Bereichen Sport-, Kunst-, oder Musik, die der Persönlichkeitsentwicklung zugute kommen. Es ist üblich, dass die Schülerinnen und Schüler nach der Schule zusätzlich Privatunterricht bekommen. Dies führt zu großen Belastungen für die Eltern. Für die erste und zweite Klasse bieten die Schulen Betreuungsangebote wie Kunst, Musik, Sport, Computer oder Hausaufgabenhilfenenthalten. Das Programm dauert bis 17 oder 18 Uhr.

Es gibt in den Dörfern ferner viele kleine Schulen. Daher werden die Schülerinnen und Schüler am Nachmittag mit einem Bus des Schulamtes in die zentrale Schule gebracht, die das After-School-Programm anbietet. Die kleinen Schulen in den Dörfern, bekommen für das After-School-Programm die Unterstützung sowohl der Zentralregierung wie auch der Provinzregierung. Für sozial schwache Schüler wurde ein Mentoringsystem eingeführt, das sehr beliebt ist, weil die Schüler in diesem Rahmen von Studenten Einzelunterricht und Berufsberatung erhalten.

Online-Redaktion: Worin sehen Sie die Unterschiede der Finanzierung des Ganztagsschulprogramms in Südkorea und Deutschland?

Gruppenfoto südkoeranische Delegation
Die südkoeranische Delegation zu Besuch in der Linné-Grundschule in Frankfurt am Main

Dr. Hong-Won Kim: In Deutschland unterstützen der Bund und die Länder den Ausbau der Ganztagsschulen. Dieser Föderalismus ist aus unserer Perspektive der richtige Weg. In Südkorea gibt es dagegen neun Provinzen und anders als in Deutschland ist das Bildungssystem stark zentralisiert.

Yeon-Seok Kim: In Deutschland tragen der Bund und die Länder gemeinsam das Ganztagsschulprogramm. In Südkorea unterstützten die Regierung und die Kommunen es von 2006 bis 2007. Seit 2008 wird das südkoreanische Ganztagsschulprogramm nur noch durch die Kommunen getragen. Da aber jede Kommune andere finanzielle Voraussetzungen hat, entstehen dadurch relevante Unterschiede, so dass nun die Regierung wieder gefordert ist, sich stärker daran zu beteiligen.

Online-Redaktion: Was sind die Ziele des After-School-Programms in Südkorea?

Dr. Hong-Won Kim: Es gibt vier Richtgrößen für die südkoreanischen Ganztagsschulen. Die erste besteht in der Aufstockung des regulären Unterrichts. Da der reguläre Unterricht nicht ausreicht, bekommen die Schülerinnen und Schüler zusätzliche Angebote. Im Unterricht gibt  es zum Beispiel keinen Computerunterricht. Diesen bietet aber das After-School-Programm.

Eine zweite Richtgröße ist die pädagogische Wohlfahrt, mit der sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler unterstützt werden. Es dient auch der Bekämpfung der Kriminalität und soll dafür sorgen, dass diese Schülergruppen bessere Chancen bekommen.

Eine dritte Richtgröße der Ganztagsschulen ist die Entlastung der Eltern von den Kosten des Privatunterrichtes. Da sie in den letzten Jahren immer mehr Geld für den Privatunterricht ihrer Kinder ausgeben mussten, hat sich die Bildungskluft zwischen den wohlhabenden und den sozial schwachen Familien immer weiter geöffnet.

Die vierte Richtgröße betrifft die Kooperation zwischen Schule und lokaler Gesellschaft. In Südkorea unterstützen auf lokaler Ebene die Unternehmen, Museen, Universitäten und Kommunen das After-School-Programm personell und finanziell. Es gibt zwischen diesen Akteuren mittlerweile eine unsichtbare Wand.

Das soll nun durch die Zusammenarbeit im Rahmen des Ganztagsschulprogramms verbessert werden. Das After-School-Programm ermöglicht und stimuliert, wie in Deutschland, die Kooperation von Schulen mit außerschulischen Partnern.

In allen vier Bereichen haben wir bislang Erfolge erzielt, außer bei der Entlastung der Eltern von den Kosten des Privatunterrichtes im Rahmen des After-School-Programms. Die Wirkungen der Entlastung der Eltern von den Kosten des Privatunterrichtes sind also bislang nicht deutlich genug. Doch für die sozial benachteiligten Eltern und Schüler haben wir in allen vier Bereichen positive Wirkungen erzielt.

Online-Redaktion: Wird das After-School-Programm auch wissenschaftlich begleitet und ausgewertet?

Dr. Hong-Won Kim: Das Erziehungsministerium erstellt jedes Jahr Statistiken für alle Ganztagsschulen in Südkorea. Es unterstützt die wissenschaftliche Auswertung mit jährlich 150.000 bis 200.000 Euro. Die Mittel dafür bekommt das KEDI seit 2006 durch das Erziehungsministerium zugewiesen. Wir führen jedes Jahr Befragungen von Lehrkräften, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern durch und werten sie hinsichtlich der Zufriedenheit aller Beteiligten aus.

Darüber hinaus organisieren wir jährliche wissenschaftliche Veranstaltungen, so wie vergangenes Jahr die Internationale Konferenz in Busan, an der auch Prof. Ludwig Stecher teilgenommen hat. Im Jahr 2008 will das KEDI ferner erheben, ob die Schulleistung, aber auch die Kriminalität durch das After School Programm positiv oder negativ beeinflusst wurde.

Online-Redaktion: Welche Erkenntnisse nehmen Sie nach Südkorea mit?

Yeon-Seok Kim: Mir ist aufgefallen, dass sich die Kulturen in Südkorea und Deutschland sehr unterscheiden. In Südkorea gibt es eine deutliche Hierarchie zwischen dem Ministerium, den Schulämtern und Schulen, was dazu führt, dass sich eine bildungspolitische Maßnahme rasch verbreiten kann.

Eine zweite Erkenntnis betrifft die finanzielle: In Südkorea tragen die Eltern eine wesentlich größere finanzielle Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder, was sich auch in den Kosten für das After School Programm ausdrückt. In Deutschland ist das anders. Die Nachmittagsangebote sind überwiegend kostenlos oder sozial ausgewogen. Gut gefallen hat mir die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und den außerschulischen Partnern.

Dr. Hong-Won Kim: Uns hat in Deutschland übrigens der Ansatz der lokalen Bildungslandschaften gut gefallen, dem die Vernetzung von Bildungsinstitutionen auf lokaler oder regionaler Ebene zugrunde liegt.

Ein gutes Beispiel dafür war die Linné-Grundschule in Frankfurt am Main - dort ist der Hort in die Schule integriert. Da Schule und Hort dieselben Kinder betreuen, wurden die zuständigen Abteilungen auf kommunaler Ebene zusammengelegt.

Es gibt in Deutschland aber noch Defizite im Bereich der Forschung. So wissen wir wenig darüber, wie sich die Ganztagsschule auf die Schulleistungen, die Kriminalität und die Persönlichkeitsentwicklung auswirken.

Als Dolmetscherin des Gespräches und Übersetzerin des Textes hat dankenswerterweise Su Jung Jung fungiert.

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