Ganztagsbetreuung in der Schweiz : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Seit ihrer Gründung ist die Schweiz der Inbegriff der regionalen und kulturellen Vielfalt: Vier Landessprachen, 26 Kantone mit ebenso vielen unterschiedlichen Bildungssystemen. Dr. Claudia Crotti erläutert das Wechselspiel zwischen Bund und Kantonen.

Online-Redaktion: Die Schweiz ist ein Land mit vier unterschiedlichen Landessprachen und einer Vielzahl von Kantonen. Wie wirkt sich diese Multikulturalität auf das nationale Bildungssystem aus?

Crotti: Historisch betrachtet zeichnet sich das Verhältnis zwischen dem Bund und den Kantonen dadurch aus, dass der Bund sich in Bildungsfragen bislang nicht eingemischt hat. Aber die Vorschule, die wir als Kindergarten bezeichnen, unterscheidet sich auch von Kanton zu Kanton. Die schulische Bildungspolitik ist vornehmlich kantonale Angelegenheit, während der Vorschulbereich in der Verantwortung der Gemeinden liegt. Dagegen ist der Bund für die Organisation der Universitäten zuständig.

Eine Besonderheit in der Schweiz ist tatsächlich die regionale Vielfalt, die sich schon darin spiegelt, dass wir in den 26 Kantonen auch 26 unterschiedliche Bildungssysteme haben, die alle auf unterschiedlichen Schulgesetzen beruhen. Neben den Kantonen gibt es noch annähernd 3.000 Gemeinden. Mit der regionalen Vielfalt variiert auch die Dauer der Grundschulzeit in den Kantonen. In einigen dauert die Grundschule vier Jahre, in anderen dagegen fünf oder sechs Jahre. Die obligatorische Schulzeit beträgt in der Schweiz für alle verbindlich neun Jahre.

Seit fünf oder sechs Jahren sind Bestrebungen im Gange, dieses föderalistische Modell der Bildungspolitik in der Schweiz verstärkt zu zentralisieren. Die damit angestrebte Harmonisierung wird durch das Projekt  HarmoS vorangebracht, das von der schweizerischen Konferenz der kantonalen Bildungsdirektoren ins Leben gerufen wurde. Diese Institution ist das Pendant der Kultusministerkonferenz (KMK) in Deutschland. Erst im letzten Jahr fand eine eidgenössische Volksabstimmung über die Änderung der Bundesverfassung statt, mit der Konsequenz, dass ein neuer Verfassungsartikel aufgenommen wurde, der die Harmonisierung verfassungsrechtlich verankern hilft.

Das bedeutet, dass die Kantone 2009 einen neuen Staatsvertrag abschließen werden, der das Bildungswesen sowohl inhaltlich als auch formal angleicht. So sollen sechs Jahre Volksschule für alle Kantone verbindlich eingeführt werden und der Kindergarten für alle Kinder ab zwei Jahren obligatorisch werden. Im Gefolge des Harmonisierungsprojektes wird auch die außerfamiliäre und schulische Betreuung nach dem Modell der Ganztagsschule ausgebaut. Das ist alles nun auf gutem Wege, denn die wenigen Kantone, die sich nicht in ihre Schulangelegenheiten reinreden lassen wollen, haben beinahe keine Chance.

In der Schweiz ist das Ganztagsschulmodell nicht für alle kulturellen Regionen verbindlich. Wenn man unter Ganztagsschule eine Institution mit einem pädagogischen Konzept versteht, die zentral an einem Ort gebunden ist, dann findet man diese Einrichtungen insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz. Die italienisch- oder französischsprachige Schweiz indes orientiert sich an einem außerschulischen Betreuungsmodell ohne pädagogisches Konzept, sodass man diese Einrichtungen auch nicht als echte Ganztagsschulen betrachten kann.

Online-Redaktion: Wie ist dieser bildungspolitische Richtungswandel denn zu erklären?

Crotti: Der zentrale Grund für die Bildungsreform ist die Wirtschaft. Aufgrund des demographischen Wandels sollen die Mütter stärker in die Wirtschaft eingebunden werden. Gerade die gut ausgebildeten Mütter möchten neben der Kindererziehung zumindest in Teilzeitbeschäftigung weiter arbeiten.
 
Die Harmonisierung wurde schon vor PISA in die Wege geleitet, da die Bildungspolitik erkannte, dass die Qualität des Bildungswesens nicht garantiert war. Dabei spielt auch die internationale Dimension eine große Rolle, da die Schweiz ja nicht Mitglied der Europäischen Union ist und deshalb nicht den internationalen Anschluss verpassen möchte. Natürlich spielen wirtschaftliche Faktoren eine wichtige Rolle und die Frage der Gleichstellung der Geschlechter. Die Schweiz gehört nämlich zu den Ländern Europas, die sich sehr spät damit auseinandergesetzt haben.

Online-Redaktion: Was sind die zentralen Probleme der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion in der Schweiz und welche Rolle spielen dabei die Ganztagsschulen?

Crotti: Der Harmonisierungsprozess dient in erster Linie der Qualitätssicherung des Bildungssystems. Es geht also konkret darum, Bildungsstandards zu implementieren, die für alle verbindlich sind. Die dafür notwendigen Leistungstests sollen feststellen, inwieweit die Schülerinnen und Schüler die zentralen Bildungsvorgaben erfüllen. Dahinter steht auch die Absicht, den Anschluss nicht zu verpassen, weil die Schweiz bei PISA nicht wirklich gut abgeschnitten hat.

Die Ganztagsschulfrage spielt im Zuge der Einführung verbindlicher Bildungsstandards eher eine untergeordnete Rolle. Das HarmoS-Projekt will zwar die Betreuungsfunktion der Schulen ausbauen, doch Konkretes im Sinne des Aufbaus der Ganztagsschulen liegt dazu noch nicht vor. Das heißt, auch in Zukunft werden die Schülerinnen und Schüler am Vormittag in die Schule gehen, zum Mittagessen kehren sie nach Hause und nachmittags wird der Unterricht fortgesetzt.

Online-Redaktion: Hemmt das traditionelle Familienmodell in der Schweiz den Ausbau der Ganztagsschulen?

Crotti: Meiner Meinung nach wird das bürgerliche Familienmodell in der Schweiz bis heute gut gelebt. Das unterstreicht die herkömmliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Ein Großteil der Männer ist in Vollzeitjobs beschäftigt, während nur ein kleiner Teil der verheirateten Frauen in Teilzeitbeschäftigung arbeitet. Bis heute herrscht in der Schweiz ein modernes bürgerliches Familienmodell vor, und es gibt relativ wenige Familien, wo beide Elternteile einer Beschäftigung nachgehen.

Eine Ausnahme bildet der Kanton Basel-Stadt. Er weist mit rund 30 Prozent eine relativ hohe Quote an Migrantinnen und Migranten auf und beide Elternteile müssen ganztags arbeiten, um die Familie zu ernähren. Gerade in Basel-Stadt werden die Schulen deshalb vermehrt als Ganztagsschulen eingerichtet.

Es kommt daher zu einem Stadt-Land-Gefälle, denn die Ganztagsschulen sind überwiegend städtische Einrichtungen. Nun wirkt sich seit einigen Jahren eine demographische Tendenz aus, wonach die Gemeinden immer weniger Kinder haben und sie deshalb versuchen, eine Ganztagsschule an einem zentralen Ort einrichten, um einen familienfreundlicheren Rahmen zu schaffen. Doch als flächendeckendes Modell hat sich das noch nicht durchgesetzt. In der ländlichen deutschsprachigen Schweiz werden die Ganztagsschulen aus diesem Grund mehr und mehr zur Option, denn damit werden die ländlichen Gemeinden zumindest für jene Familien attraktiv, die auf das Land ziehen wollen.

Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung im Bündner Land mit seinen abgeschlossenen Tälern, wo man versucht, die Schulen zu erhalten, indem man konsequent eine zentrale Ganztagsschule einrichtet.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielt der demographische Wandel für den Ausbau der Ganztagsschulen in der Schweiz?

Crotti: Insgesamt spielen die demographischen Veränderungen eher eine Nebenrolle. Zwar wird vermehrt in der öffentlichen Diskussion auf den Geburtenrückgang hingewiesen, doch es kennzeichnet gerade die Schweiz, dass sie den Geburtenrückgang durch den hohen Anteil an Zuwanderung von Migrantinnen und Migranten kompensieren kann, die ja eine deutlich höhere Geburtenrate aufweisen.

Ein allgemeines Betreuungsproblem sehe ich in der Schweiz dadurch aufkommen, dass die Arbeitskräfte knapp werden und jetzt zusehends auf die weiblichen Arbeitskräfte zurückgegriffen wird. Nicht zufällig wurde die Schweiz durch die OECD gerügt, weil sie kaum Krippen- und Hortplätze anbietet.

Vor diesem Hintergrund wurde im Jahre 2000 auf Bundesebene eine Initiative ins Leben gerufen, die eine Anstoßfinanzierung dieses Bereiches ermöglichen sollte. Von 2001 bis 2005 wurden im Rahmen dieser Initiative rund 200 Mio. Franken ausgegeben. Finanziell bedacht wurden Krippenplätze, Tagesschulen, aber auch Tagesfamilien. Diese unterschiedlichen Betreuungsmodelle sollen in der Schweiz nun ausgebaut werden.

Allerdings kam das Problem auf, dass die bereitgestellten Gelder nicht abgerufen wurden. Es handelte sich ja nur um eine Anstoßfinanzierung, das heißt die Krippen oder die Ganztagsschulen müssen sich im Laufe von zwei bis drei Jahren finanziell selbst tragen. So entwickelte sich die Initiative zu einem Hindernis auf dem Weg zur flächendeckenden Verbreitung von ganztägigen Betreuungs- und Bildungsangeboten.

Für die Finanzierung der Ganztagsschulen, die zum einen Teil von den Kantonen und zum anderen Teil von den Eltern übernommen wird, gibt es auch kein allgemeingültiges Modell. In absehbarer Zeit werden sich die Ganztagsschulen nicht flächendeckend durchsetzen.
 
Es gibt viele Familien in der Schweiz, die das gar nicht mittragen würden, weil sie es als Eingriff in die Familiensphäre begreifen, wenn ihre Kinder den ganzen Tag über extern betreut werden. So ist eine Ambivalenz wahrnehmbar: Einerseits wird von Eltern und politischen Verbänden der Aufbau der Ganztagsschulen gefordert, andererseits gibt es eine konservative Haltung - und die Schweiz gilt ja als konservativer Wohlfahrtsstaat - die die Familienidylle hochhält.

Online-Redaktion: Was macht denn eine gute Ganztagsschule in der Schweiz aus?

Crotti: Eine gute Ganztagsschule ist für mich eine solche, die die Schule auf die Bedürfnisse der Eltern abstimmt. Es wäre also eine offene Ganztagsschule, die eine flexible Betreuung der Kinder über den Nachmittag hinweg gewährleistet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Betreuung durch die Institution Schule in der Schweiz ein Thema ist, aber es wird je nach Region unterschiedlich ausgefüllt. Solange wir die Harmonisierung nicht wirklich gelöst haben, solange wird auch die Frage der schulergänzenden Betreuung sich heterogen entwickeln.

Dr. Claudia Crotti ist Oberassistentin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Bern. Von 1987 bis 1989 Grundschullehrerin, 1995 bis 1998 Dozentin für Allgemeine Didaktik am Lehrerinnen- und Lehrerseminar Liestal/BL, Promotion im Jahr 2002, seit 2003 Oberassistentin in der Abteilung Allgemeine Pädagogik.

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