Eine Panne im sozialen Aufzug : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Was ist schief gelaufen in Frankreich, fragen sich viele Experten angesichts der Unruhen in den Vororten von Paris? Eric Pateyron, Schulleiter der École Honoré de Balzac in Nanterre, war Gast des Ganztagsschulkongresses in Berlin.
Online-Redaktion: In Europa schaut man derzeit aufmerksam auf Frankreich: Die Unruhen - so fürchten viele - könnten sich auch woanders ausbreiten. Welche Ursachen haben Ihrer Meinung nach die Unruhen in den Vororten der Großstädte wie zum Beispiel Paris?
Pateyron: Hintergrund der Unruhen ist ein Vorfall mit zwei Jugendlichen, die auf der Flucht vor der Polizei gestorben sind. Früher blieben Unruhen auf einzelne Wohnviertel beschränkt, doch nun haben sie sich überall ausgebreitet. Die Unruhen haben also eine neue Dimension erreicht. Es gibt in den betroffenen Vierteln ein weit verbreitetes Gefühl, nicht mehr vertrauen zu können, selbst den Reden der Politiker nicht.
Es ist die Wirtschaftkrise und die Arbeitslosigkeit in den Pariser Vororten ist sehr hoch. Ganze Viertel sind ausschließlich von verarmten Bevölkerungsgruppen bewohnt und die Armut steigt. Das Leben in den Vierteln ist sehr schwer geworden - sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch für die Erwachsenen.
Auch das Vorgehen der Polizei spielt eine große Rolle. Unter der Regierung Jospin hat die Polizei eine Politik der Annäherung, des Dialogs in den Brennpunktvierteln praktiziert. Die Polizei hat sich also präventiv und nicht etwa repressiv den Problemen gegenüber verhalten. Da es in den Vierteln viel Drogenhandel und Schattenwirtschaft gibt, hat die neue Regierung viel gegen Drogenhandel getan. Doch zugleich hat sie ihren "Fuß in ein Ameisennest" gesetzt, als sie den Kurs der Polizei verschärft hat.
Online-Redaktion: Hat die Integration in Frankreich versagt und haben sich die Schulen zu wenig engagiert?
Pateyron: In meinem Viertel oder in meiner Schule hat kein Auto gebrannt. In anderen Vierteln in Nanterre ja. Diese jungen Leute fühlen, dass sie keine Zukunft haben. Übrigens sind auch einige Schulen während der Unruhen beschädigt worden.
Für mich ist die Integration trotz allem ein Erfolg. Viele Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund haben die Integration und den sozialen Aufstieg geschafft. Doch die Leute, die es nicht geschafft haben, bleiben in den Vierteln, während die Erfolgreichen regelrecht fliehen.
Ich denke nicht, dass die Schulen versagt haben, oder dass sie sich zu wenig engagiert haben. Doch meine Schule zum Beispiel hat tatsächlich zu wenig Geld. Warum? Die Eltern in den besser gestellten Vierteln geben freiwillig allein für eine Klasse mehr Geld, als ich es für meine ganze Schule erhalte! Das verfügbare Geld vom Staat oder von der Kommune reicht nicht aus, um Chancengerechtigkeit herzustellen.
In den gefährdeten Vierteln sind viele Polizisten und Lehrer sehr jung und unerfahren. Die Polizisten und die Lehrer, die älter sind und mehr Erfahrung haben, wählen oft, und manchmal so bald wie möglich, ruhigere Viertel. Dieser Mangel an Erfahrung ist ein Problem für die Wirksamkeit der öffentlichen Dienste: Es gibt Schulen, in denen jedes Jahr die Hälfte der Lehrkräfte weggeht. Die Bevölkerung und die Schüler unserer Viertel brauchen Stabilität und Vertrauensbeziehungen.
Ich arbeite seit 16 Jahren an der Schule Honoré de Balzac. In meiner Schule ist die Mannschaft stabil und das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum wir keine Probleme haben. Wir kennen die einzelnen Schülerinnen und Schüler und deren Familien recht gut. Wenn ein großes Problem auftritt, können wir uns so besser darauf einstellen.
Online-Redaktion: Stehen die Unruhen in einem Zusammenhang mit den Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrantionshintergrund in Frankreich?
Pateyron: Viele junge Menschen in den Brennpunktbezirken haben keine Perspektive. Wenn der Staat eine andere, sozial intelligentere Politik in Angriff nähme, also wenn die betroffenen Viertel mehr Mittel und Unterstützung bekämen, wäre die Situation wahrscheinlich entspannter. Es müsste zum Beispiel mehr Mittel für die éducateurs (Erzieher und Sozialarbeiter) geben. Doch die konservative Regierung hat seit 2002 solche Mittel gekürzt. Es war ein großer Irrtum, diese Mittel für die Lehrer und die Schülerinnen und Schüler zu streichen.
Online-Redaktion: Welche Maßnahmen für Integration sind denn in dem französischen Schulsystem angelegt?
Pateyron: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Ausländern, die schon lange in Frankreich leben, und solchen, die neu hinzugezogen sind, also zwischen der ersten, zweiten und dritten Einwanderergeneration. Viele Menschen aus der ersten und zweiten Generation haben eine gute soziale Situation erreicht. Aber für alle jungen Leute, also auch einheimische, die keinen wirklichen Bildungshintergrund haben, ist es sehr schwer geworden.
Für diese wäre es hilfreich, die Berufausbildungen berets für junge Menschen ab 14 Jahren und zudem für diejenigen zu verstärken, die keine guten Schulleistungen erbringen oder die Schule nicht ertragen.
Die Politiker entschuldigen sich damit, dass der soziale Aufzug (ascenseur social) eine Panne hat. Das entspricht aber nicht ganz der Wahrheit. Er kann nämlich nicht innerhalb einer Generation vom ersten in den dritten Stock aufsteigen. Sozialer Aufstieg dauert wahrscheinlich drei Generationen, das ist wichtig zu verstehen.
Viele Menschen orientieren sich an Mythen, also an konstruierten Geschichten von Leuten, die im Lotto gewinnen oder an Sportlern, die viel Geld verdienen. Doch das ist nur ein Traum. Das Problem für alle Menschen in Frankreich ist die Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit. Und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht es darum, eine gute Ausbildung oder eine gute Arbeit zu finden.
Man muss sich eben in der Schule anstrengen, um wirklich weiter zu kommen, aber man muss den Kindern und Jugendlichen auch eine Hilfestellung für schulischen Erfolg geben. Und diese Hilfen muss man in der Breite verwirklichen. In den Collèges (Basisschulen) sollten wir die Schülerinnen und Schüler stärker unterstützen und individuell fördern.
Kinder und Jugendliche haben in der Sekundarschule die größten Probleme und nicht, wenn sie noch sehr jung sind und den Kindergarten oder die Grundschule besuchen. Das Alter zwischen dem 13. und 20. Lebensjahr ist eine Periode, die für die Kinder und Jugendliche schwer ist. Sie brauchen in dieser Lebenszeit mehr Hilfe und Orientierung.
Online-Redaktion: Welchen integrativen Beitrag kann eine systematische Sprachförderung leisten?
Pateyron: Die größte Unterstützung in diesem Bereich leistet die École Maternelle. Die École Maternelle ist ein kostenloser Kindergarten. In Frankreich gehen mehr als 95 Prozent der Kinder in diese vorschulischen Betreuungsstätten. Drei Jahre lang (also ab dem 2. bis zum 5. Lebensjahr) können die Kinder die französische Sprache lernen. Danach können sie in der Grundschule leichter und effektiver lesen lernen.
Allerdings ist die Konsum orientierte Gesellschaft keine große Hilfe, sondern ein ernstes Problem. Wir brauchen deshalb mehr sprachliche Förderung für diese Schülerinnen und Schüler, auch nach der Grundschule. RASED ("Réseau d'Aides Spécialisées aux Elèves", ein Netzwerk der Zusammenarbeit von Schule und externen Fachkräften; P. Z.) bietet dafür eine gute Grundlage. Die Hilfe über RASED findet aber nur in der Schule statt.
Man kann über andere staatliche Unterstützungssyteme ebenfalls kostenlose Hilfe beanspruchen, aber das findet außerhalb der Schule statt. Es gibt darüber hinaus Initiativen auf privater Grundlage, das heißt, die Eltern sowie die Lehrerinnen und Lehrer engagieren sich dabei für Nachhilfestunden - das verbreitet sich stark, und das halte ich für gefährlich, weil die Sprachförderung im Collège bleiben muss. Sie darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
Die Presse ist übrigens auch an der Verbreitung falscher Bilder und Vorstellungen beteiligt: Sie macht die Migranten dafür verantwortlich, dass sie keine Arbeit bekommen. Natürlich gibt es in den Brennpunktvierteln viele Menschen, die wirkliche Probleme haben. Doch diejenigen, die es geschafft haben, wohnen in den besseren Vierteln, und diese Integrationserfolge werden meist ausgeblendet.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Bildungspolitik: Interviews
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