Ein Tag im Leben eines französischen Schulleiters : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Die Online-Redaktion befragte Eric Pateyron, Schulleiter der École Honoré de Balzac in Nanterre, über seinen Arbeitstag an einer französischen Ganztagsschule.
Online-Redaktion: Wenn es einen ganz "normalen" Schultag an der Grundschule Honoré de Balzac in Nanterre gibt, wie sieht er konkret aus?
Pateyron: Mein Arbeitstag beginnt gewöhnlich um 8 Uhr morgens. Jeder Tag ist anders: Manchmal ist ein Tag fast gemütlich, während der nächste wieder sehr anstrengend und problemreich sein kann. So wird das wohl in allen Schulen sein. Zuerst höre ich die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. Danach schreibe ich Infos für meine Kolleginnen - ich habe nur Kolleginnen! - Termine, Versammlungen, besondere Klassen- oder Schulaktivitäten, Informationen von meinen Vorgesetzten oder von unseren Partnern. Anschließend lege ich den ,Tagesordner' ins Lehrerzimmer, den jede Lehrerin täglich lesen und unterschreiben muss. Mit manchen Kolleginnen, die schon um 8 Uhr in die Schule kommen, führe ich gerne Gespräche. Oft habe ich um diese frühe Tageszeit auch Termine mit Eltern. Einmal pro Woche versammeln wir uns um 8 Uhr im "Conseil des maîtres" (vergleichbar der Lehrerkonferenz; P. Z.).
Um 8.50 Uhr öffne ich das Schultor. Die Kinder gehen dann in ihre Klassenzimmer, wo die Lehrerinnen auf sie warten. Ich begrüße dann mit der Kollegin, die für die Bibliothek verantwortlich ist, jeden der 365 Schülerinnen und Schüler einzeln. Diese Form der Organisation haben wir seit zwei Jahren etabliert. Früher warteten die Kinder von 8.50 bis 9.00 Uhr auf dem Schulhof, bis sie mit ihren Lehrerinnen in die Klassenzimmer gingen. Aber wir haben gemerkt, dass die Kinder zu aufgeregt und nicht in der Lage waren, sich vor 9.15 Uhr auf den Unterricht zu konzentrieren. So haben wir mit dieser neuen Organisation viel gewonnen. Allerdings heißt das auch, dass die Lehrerinnen früher in der Schule und in den Klassenzimmern sein müssen.
Online-Redaktion: Was ist die Aufgabe eines Schulleiters in Frankreich, was sollte er am besten können?
Pateyron: Ich bin nicht der "Chef" meiner Kolleginnen, auch rechtlich gesehen nicht. Meine Verantwortung erstreckt sich auf die Schule selbst, nicht auf das Lehrpersonal. Als Schulleiter muss ich die Fähigkeit haben, das Team zu motivieren, aber Motivation ist keine Frage der Macht oder der Position, sondern eine mentale Aufgabe. Die Pädagogen an der Schule sollen ihre eigene Rolle ernst nehmen, was im Erziehungsbereich vielleicht noch wichtiger ist als im privaten Bereich. Als Schulleiter ist es für mich sehr wichtig, ein gutes Arbeitsklima zu schaffen und zu erhalten. Das ist mit 365 Schülerinnen und Schülern eines armen Viertels nicht immer einfach.
Wir evaluieren stets unsere Projekte, das Arbeitsklima, die Schülerfortschritte und Schwierigkeiten, um immer wirksamere Lernmethoden zu entwickeln. Hierin sehe ich den vielleicht größten Unterschied zu den Schulen älteren Typs. In Frankreich gehen ja alle Schülerinnen und Schüler im Sekundarbereich in das Collège, während in Deutschland die Schülerinnen und Schüler schon früh auf die verschiedenen Schulformen aufgeteilt werden. In Frankreich dagegen können wir alle Schülerinnen und Schüler demselben Evaluationstest unterziehen, was wiederum sehr wichtige Rückschlüsse auf unsere Arbeit erlaubt.
Online-Redaktion: Auf welche wiederkehrenden Probleme muss sich ein Schulleiter einstellen?
Pateyron: Wir nehmen an unserer Schule die Zeit sehr ernst. Um 9.00 Uhr ertönt der Schulgong, und ich ermahne die Schülerinnen und Schüler, die sich verspätet haben. Ein Schulkind, das auf dem Schulweg rennen muss oder zu spät in den Unterricht kommt, wird sich in der Klasse nicht wohlfühlen, wenn seine Mitschüler schon angefangen haben zu arbeiten.
Ab 9.10 Uhr gehe ich in die Klassenzimmer, um die Schulkinder zu begrüßen, oder die Namen der Abwesenden aufzuschreiben. Anschließend prüfe ich, wie viele der anwesenden Schülerinnen und Schüler normalerweise in der Kantine essen. Gewöhnlich essen dort etwa 280 Schülerinnen und Schüler. Wenn ich die Zahl der Kinder der Kantinenleiterin durchgegeben habe, gehe ich zurück in mein Büro. Für uns ist es sehr wichtig, den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass der Schulleiter präsent ist. Wenn ich eine Besprechung mit dem Schulinspektor oder mit Schulpartnern habe, vertritt mich die Kollegin, die in der Schulbibliothek arbeitet, bei den Klassenbesuchen.
Zweimal pro Tag lege ich meinen Kollegen die Post ins Fach. Wenn es mal keine Termine mit Eltern oder keine Versammlungen gibt, nutze ich die Zeit, um in Ruhe in meinem Büro zu arbeiten. Ich kümmere mich dann um die Schulverwaltung, um Berichte, die Schülerzeitschrift ,InfoBalzac' oder um die Entwicklung neuer Projekte.
Doch oft werde ich dabei unterbrochen: durch das Telefon, durch Faxeingänge, Mails, aber hin und wieder auch durch ein verletztes Kind oder einen undisziplinierten Schüler. Für mich ist es wichtig, dass die Klassen in Ruhe lernen können und dass die Lehrerinnen die Möglichkeit haben, unruhige Schülerinnen und Schüler zu mir zu schicken. Hin und wieder geht es in den Gesprächen auch um einen defekten Kopierer oder ein Computerproblem.
Wenn um 10.10 Uhr Pause für die Kleinen ist (die Sechs- bis Achtjährigen) und um 10.30 Uhr Pause für die Großen (die Neun- bis Zwölfjährigen), habe ich Zeit, mit den Kolleginnen über einzelne Schülerinnen und Schüler zu sprechen.
Online-Redaktion: Wie sieht es mit der Mittagspause aus?
Pateyron: Die Mittagspause ist sehr wichtig für die Gestaltung des Nachmittags. Meine Kolleginnen und ich essen zusammen mit den Kindern, unsere Anwesenheit wirkt verbindend und beruhigend auf sie. Ein paar Kinder, die nicht am Mittagessen teilnehmen, haben die Möglichkeit, in der Bibliothek zu lesen oder im Computerraum zu spielen. Während der Mittagspause gibt es regelmäßige Zusammenkünfte mit RASED (Réseau d'Aides Spécialisées aux Elèves ist ein Netzwerk der Zusammenarbeit von Schule und externen Fachkräften; P. Z.), mit Schulpartnern oder auch mit Lehrerinnen, mit denen ich mich über besondere Schulprojekte unterhalte, zum Beispiel über unser "Mittwoch-Projekt". Dieses ermöglicht den Kindern ab acht Jahren, an durch die Schule organisierten Museumsbesuchen teilzunehmen. Jedes Jahr nehmen mehr als 100 Kinder daran teil. Dies wird übrigens vom Staat und der Gemeinde finanziert.
Online-Redaktion: Gibt es ein strukturiertes Nachmittagsleben an Ihrer Schule?
Pateyron: Nach 16.30 Uhr verlassen die Kinder die Schule oder sie bleiben in den "Études Dirigées" (Betreute Aufgaben), in denen sie bestimmte Aufgaben erledigen. Die Kinder lesen in dieser Zeit oder sie lernen Geschichtslektionen oder Gedichte. Schriftliche Aufgaben sind verboten. Etwa 160 Schülerinnen und Schüler bleiben bis 18 Uhr in der Schule. Sieben Lehrer begleiten sie, ich auch, und zwar jeden Tag. So kann ich sehen, was und wie sie lernen und welche Schwierigkeiten sie haben.
Auch nach 18 Uhr habe ich noch Termine mit Eltern oder mit Schulpartnern. Wenn es keine weiteren Versammlungen gibt, kann ich um 19 Uhr Feierabend machen, aber nur zweimal in der Woche. Hin und wieder leite ich Schulleiterversammlungen von Nanterre, in denen wir uns über Schwierigkeiten und Erfolge austauschen. Ich lerne dabei viel, so zum Beispiel dass wir die Organisation der Mittagspause oder auch den Bereich Informatik noch verbessern können.
Online-Redaktion: Wie arbeiten Sie mit den Eltern zusammen?
Pateyron: Seit einigen Jahren haben die Beziehungen zu den Eltern in allen Schulen an Bedeutung gewonnen. Ich empfange jede Woche bis zu 30 Eltern. Manchmal sind diese Treffen sehr kurz, manchmal dauern sie mehr als eine Stunde. Unsere Schule ist nicht vom Leben außerhalb der Schule abgeschnitten und es ist - besonders in meinem Schulviertel, wo viele Eltern, die aus mehr als 40 Ländern kommen, arm sind - sehr wichtig, dass die Eltern verstehen, wie die Schule funktioniert, was ihre Kinder dort machen und welche Ziele wir verfolgen.
Eltern haben heutzutage große Erwartungen an die Schule. Sie verlangen positive Ergebnisse und vertragen keine Misserfolge ihrer Kinder. An einem Samstag pro Monat laden wir alle Eltern in die Schule ein, um über verschiedene Themen zu sprechen: Gesundheitserziehung, Schulreform, Kindern Grenzen zu setzen, Strafen, Weiterentwicklung des Unterrichts. Oft nehmen an diesen Versammlungen auch unsere Schulpartner teil, also Ärzte, Ernährungsfachleute, Sozialarbeiter, Polizisten usw. Ich leite diese Versammlungen, die meist sehr interessant verlaufen.
In unserem Viertel spielt die Gesundheit eine große Rolle. Menschen in Armut kümmern sich oft wenig um ihre Gesundheit, was immer auch eine Frage von Bildung ist. Die Rolle der Schule sehe ich darin, das Wissen zu teilen und zwar auch mit den Eltern. Wir bemühen uns in diesem Zusammenhang, Vertrauen zu entwickeln.
Online-Redaktion: Wie gelingt es Ihnen, die Eltern in das Schulleben zu integrieren?
Pateyron: Jedes Jahr organisieren wir ein großes Fest, wo wir gemeinsam essen, was die Familien zu Hause vorbereitet haben. Wir führen im Laufe eines Jahres viele Theaterstücke auf, die auch die Eltern ansprechen. Die Kinder aus unserem Viertel sind mehr als andere darauf angewiesen, etwas Konkretes zu tun. Sie wollen ihre Kompetenzen den Erwachsenen und insbesondere ihren Eltern zeigen. Da unsere Schule ganz in der Nähe des Bahnhofs liegt, können wir ins Museum nach Paris fahren oder in den Wald von St. Germain, um die Natur zu beobachten. Ich halte es für sehr wichtig, dass bei den Kindern schon früh eine Bindung zwischen dem "Buch" und der Wirklichkeit hergestellt wird. Aber auch Fähigkeiten, z. B. Meisterwerke der Malerei zu bewundern, sollten weiter entwickelt werden.
Online-Redaktion: Herr Pateyron, zum Schluss noch die Frage: Gibt es für gemeinsame Probleme in Frankreich und Deutschland gemeinsame Lösungen?
Pateyron: In beiden Ländern, in Frankreich und Deutschland, wollen wir Schulreformen durchführen. Doch hüben wie drüben gibt es nach wie vor viele Widerstände. Für uns als Schulen ist es schwer geworden, weil die Gesellschaft "alles und sofort" haben will. Aber Wissen braucht Zeit und Mühe. Das Wichtigste ist für mich, dass die Lehrerinnen und Lehrer verstehen, dass die Zusammenarbeit in der Schule nur mit Partnern erfolgreich sein kann. Lehrer können heutzutage nicht mehr als Einzelkämpfer erfolgreich sein. Unsere Verantwortung ist größer geworden. Unsere Länder brauchen gut ausgebildete Jugendliche. Dies bedeutet für alle Lehrerinnen und Lehrer, dass ihre Teamarbeit ebenso wichtig geworden ist wie die Arbeit in der Klasse selbst. Das ist in Deutschland und in Frankreich eine kulturelle Revolution, die einen langen Atem braucht.
Gerade in gefährdeten Vierteln, den so genannten sozialen Brennpunkten, ist das Schulklima wichtig, dass sich die Kinder wohlfühlen. Man muss im Grunde jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin und deren Familien begleiten. Das ist eine enorme Herausforderung für uns.
Die Schule kann trotzdem nicht alle Probleme lösen. Keine Schule und auch kein Land hat alle Lösungen parat.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Partizipation
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