Erwerbsarbeit und Familienpolitiken in Ost und West seit 1945 : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
In Ländern, in denen die Frauen aus dem Erwerbsleben gedrängt wurden und die ihre Familienformen und ihre Bildungssysteme nicht modernisierten, wird das wirtschaftliche Wachstum und die soziale Entwicklung blockiert. Dies belegen neue Forschungsergebnisse Projektes "The German Half-Day Model: A European Sonderweg".
Auf einen groß angelegten europäischen Vergleich von Erwerbsarbeit, Familie und Schule seit dem Zweiten Weltkrieg musste die Wissenschaft lange warten. Zu viele Schwierigkeiten methodischer und theoretischer Art waren dabei zu meistern, zu unübersichtlich das Terrain für einen einzelnen Wissenschaftler.
Die wissenschaftliche Bewältigung der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges oder die säkularen Folgen nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Staatensystems nach 1989 und die Einläutung eines weltumspannenden Prozesses wie der Globalisierung: all das kommt einer Mammutaufgabe gleich. Das Problem eines internationalen, fachübergreifenden Austausches ist auch prinzipieller Natur: Ist ein Vergleich zwischen Ost- und Westeuropa überhaupt möglich?
Beide Gesellschaftssysteme verfügten nicht nur über beinahe konträre Ideologien, sondern ihre Zeitstrukturen von Erwerbsarbeit, Familie und Schule folgten auch unterschiedlichen historisch-gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen. Mit dem Begriff der Zeitpolitiken ("Time Politics"), den das internationale Forscherteam um Projektleiterin Prof. Karen Hagemann, Prof. Cristina Allemann-Ghionda (Co-Projektleitung) und Prof. Konrad Jarausch eigens entwickelte, um den deutschen Sonderweg in der Bildungs- und Familienpolitik nach 1945 zu erfassen, wurde das begehrte tertium comparationis, das so genannte Dritte des Vergleiches gefunden.
"Was wird verglichen?"
Der genderorientierte und disziplinübergreifende Blick, den die Forscherinnen und Forscher im Rahmen des von der Volkswagenstiftung und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Projektes wählten, half dabei, das gemeinsame "Dritte" über den eisernen Vorhang der Wohlfahrtsstaaten hinweg in den Blick zu bekommen. Nun konnten schwierige Klippen umfahren werden, wenn auch die Historikerin Karen Hagemann an die Probleme einer vergleichenden Perspektive erinnerte.
"Was wird verglichen?", merkte sie im Hinblick auf einen Vergleich der verschiedenen Familienpolitiken an. Welche Begriffe werden verwandt und welche Bedeutung haben sie im je spezifischen historischen Kontext? Oder wie werden Statistiken über bestimmte Phänomene der Familienpolitik in den verschiedenen Staaten definiert? Sind diese Statistiken überhaupt vergleichbar?
Die Pluralisierung der Familienformen in Europa
Die Probe auf das Exempel wurde mit dem Thema Familienpolitiken im Vergleich (zweiter Panel "Family Policies in Comparison") gemacht. Wie sinnvoll eine komparative Perspektive in der Praxis ist, verdeutlichte der Vortrag "Comparing Familiy Policies in Western Europe" der Soziologin Prof. Ute Gerhard, die an der Universität Frankfurt lehrt.
In der gegenwärtigen Pluralisierung der Familienformen erkannte Gerhard einen Ausdruck sozialen Wandels und in der gegenwärtigen Transformationsperiode überdies einen europäischen Trend. So hat es europaweit in allen industrialisierten Ländern zwischen 1945 bis Mitte der 1960er Jahre ein goldenes Zeitalter der Ehe gegeben. Niemals zuvor habe es so viele verheiratete Menschen und so wenige Scheidungen gegeben. Steigende Geburtenraten waren die Folge.
Ab Mitte der 60er Jahre wurde das traditionelle Familienmodell aufgrund größerer ökonomischer Strukturkrisen und damit einhergehender sozialer Transformationsprozesse immer brüchiger. Infolgedessen stiegen in den 70er Jahren nicht nur die Scheidungsraten merklich, sondern es waren europaweit fallende Geburtenraten zu verzeichnen. Demographische Veränderungen in dieser Größenordnung rufen stets den Staat auf dem Plan: "Der Fall der Geburtenrate war immer Anlass für Staatsinterventionen", erläuterte Ute Gerhard.
Verspätete Modernisierung der Geschlechterbeziehungen
Länder mit hoher weiblicher Beschäftigung wie die skandinavischen Länder oder Frankreich haben den Übergang besser gemeistert als andere Nationen wie zum Beispiel Deutschland oder Italien: "Jene Länder, die am spätesten ihre Geschlechterbeziehungen modernisierten, haben die geringsten Geburtenraten", stellte Gerhard fest. Anhand von Länderbeispielen erläuterte sie ihre These, dass spezifische Rechtstraditionen und Kulturen im Rahmen des Wohlfahrtsstaates die Familienpolitiken beeinflussen.
Frankreich habe eine Tradition der Staatsintervention in Familienangelegenheiten, die einem republikanischen Ansatz folge und dem Code Civil verpflichtet sei. Erst seit 1970 bahnte sich die Staatsneutralität in privaten Familienangelegenheiten an. Großbritannien dagegen sei geprägt durch das Common Law und eine Politik der Nicht-Intervention, was auch daran ablesbar sei, dass die Ehe als ein rein privater Vertrag behandelt werde. In Deutschland hingegen werde die Familie durch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das 1900 in Kraft trat und auch in der Bundesrepublik noch Geltung hatte, als "fundamentale Institution und Basis der Sozialpolitik behandelt."
Diese Politik basierte auf dem traditionellen Modell der "Ernährer-Hausfrau-Familie", das dem Mann die Rolle des Ernährers und der Frau die der Hausfrau und Mutter zuwies. Erst mit der Reform vom März 1953 wurde das Familienrecht des BGB - soweit es gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz von Mann und Frau im Grundgesetz verstieß (Art. 117 I, Art. 3 GG) - unwirksam. Der Gesetzgeber verlieh dem Gleichberechtigungsgesetz von 1957 dadurch Geltung, indem er das Güterrecht auf die heute geltende Zugewinngemeinschaft umstellte und das Entscheidungsrecht des Ehemanns in ehelichen Fragen aufgehoben wurde. Allerdings wurde das Leitbild der Hausfrauenehe erst durch das Eherechtsgesetz von 1976 beseitigt.
Historische Erblasten des traditionellen Familienmodells
Ländern wie die Bundesrepublik Deutschland, Griechenland, Österreich, Spanien und Italien ist es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht in gleichem Maße wie anderen nord- und westeuropäischen Ländern gelungen, das traditionellen Modell der "Ernährer-Hausfrau-Familie" mit seiner starken Betonung der Mutterrolle zu überwinden, erläuterte die Historikerin Merith Niehaus von der Universität der Bundeswehr in ihrem Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Ute Gerhard. Diese Konstellation sei für Staaten, wie Griechenland und Spanien, die bis Mitte der 1970er Jahre zeitweilig bzw., ganz nationalistische Militärdiktaturen waren, und die auf einer konservativen Geschlechterordnung basierten, nicht erstaunlich. Sie müsse hingegen für moderne westliche Demokratien wie die Bundesrepublik Deutschland, Italien und Österreich genauer erklärt werden.
Die zukünftige Forschung habe daher die Aufgabe noch sehr viel genauer und in vergleichender Perspektive zu untersuchen, welche Auswirkungen das traditionelle Modell der "Ernährer-Hausfrau-Familie" im Bereich der Sozial-, Bildungs- und Familienpolitiken bis heute in verschiedenen Ländern nach sich ziehe.
Auch ein Blick auf unterschiedliche Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland belegt, dass die genderorientierte und historisch-vergleichende Perspektive neue Erkenntnisse im Rahmen der Familienforschung ermöglicht. In Westdeutschland wurden - so Karen Hagemann (University of North Carolina at Chapel Hill) - Mütter u.a. durch das Halbtagssystem in Kindergärten und Schulen bis in die Gegenwart hinein systematisch an einer ganztägigen Erwerbsarbeit gehindert. Die historische Analyse zeige, dass dies eine bewusste Intention der Halbtagspolitik war, die vor allem von der CDU/CSU und christlich-konservativen Kreisen aktiv betrieben, aber bis in die 1970er Jahr hinein auch von der SPD und den Gewerkschaften unterstützt wurde.
Für die Mehrheit der Politiker und Politikerinnen wie der Wählerschaft galten Mutterschaft und Voll-Erwerbstätigkeit als unvereinbar. Die Mutter gehörte ins Haus und zu den Kindern. Anstatt die ganztätige Frauenerwerbsarbeit, wie z.B. in Schweden zu fördern, wurden in Westdeutschland angesichts des wachsenden Arbeitskräftemangels seit den 1960er Jahren ausländische Arbeitskräfte als "Gastarbeiter" angeworben. Bis in die 1970er hinein Jahre herrschte deshalb ein konservatives Familien- und Frauenbild vor, dass erst durch die Neue Frauenbewegung, die Ende der 1960er Jahre aufkam, zunehmend infrage gestellt wurde, ohne dass diese allerdings, wie in den skandinavischen Ländern, vom Staat vehement ganztägige Kinderbetreuung oder die Ganztagsschule gefordert hätte.
Die Aktivistinnen der Frauenbewegung setzen sich primär für eine "antiautoritäre Erziehung" in den selbst organisierten Kinderläden ein. Diese Haltung, die sich deutlich von der skandinavischen Frauenbewegung unterschied, habe mit der Skepsis gegenüber dem "autoritären und patriarchalen" Staat zu tun. Sie lässt sich mit dem damit einhergehenden Streben nach institutioneller Autonomie und dem Ziel einer "antiautoritären Erziehung" erklären.
Hagemann unterstrich zudem nachdrücklich die Bedeutung des Kalten Krieges für die Langlebigkeit des traditionellen Familienmodells in Westdeutschland. Frauenerwerbstätigkeit und öffentliche Gemeinschaftserziehung von Kindern seien mit dem Verweis auf die DDR als "sozialistische Maßnahmen," die zu einem "Zerfall von Familie und Gesellschaft" beitragen würden, abgelehnt worden. Die Beziehung der beiden deutschen Staaten sei so nachhaltig durch "Abgrenzung und Verflechtung" geprägt worden. Dieser spezifische politisch-historische Kontext habe die "Zeitpolitik des Halbtagsmodells" im westdeutschen Bildungssystem in starkem Maße geformt.
Hohe Standards in Osteuropa
Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges, in der DDR, mussten die Frauen mit dem wachsenden Arbeitskräftemangel seit Ende der 1950er Jahre zunehmend in den Arbeitsmarkt integriert werden. Mit der flächendeckenden Einrichtung von ganztätigen Krippen, Kindergärten und Horten förderte die DDR-Führung - so Monika Mattes vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam - deren Integration in den Arbeitsmarkt. Gut 88 Prozent aller Frauen waren gegen Ende der DDR voll erwerbstätig.
Diese Entwicklung begünstigte ein anderes Modell der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, nämlich das der "Zwei-Ernährer-Hausfrau-Familie". In der politischen Rhetorik der DDR wurde die Frauenerwerbstätigkeit gemäß der "sozialistischen Emanzipationstheorie" als Mittel zur Gleichberechtigung propagiert. Doch die Arbeitsteilung in der Familie wurde nicht in Frage gestellt. Infolgedessen lastete auf den Frauen der DDR - trotz der hohen weiblichen Arbeitsmarktbeteilung wie in Westdeutschland - der größte Teil der Hausarbeit.
Noch etwas weiter Östlich blickte Jacqueline Heinen, Professorin für Soziologie an der University of Versailles-Saint. Sie wagte sich an eine Tour d' Horizon über die Familienpolitiken Osteuropas. In ihrem Vortrag "Comparing Family Policies in Eastern Europe after 1945 in a Gender Perspective" zeichnete sie ein vielschichtiges Bild über die Zeit während und nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Estland, Litauen, Tschechien, Slowenien, Polen, Ungarn und in der Slowakei.
Die Folgen der neoliberalen Deregulierung
Allen Unterschieden in der Wirtschaft oder der Kultur dieser Länder zum Trotz fallen sie durch große Ähnlichkeiten hinsichtlich der Sozial- und Familienpolitiken auf. So wurde den Frauen ein Recht auf Arbeit zuerkannt und diese zur Vollzeitarbeit ermuntert. Die Quantität der Kinderbetreuung der Drei bis Sechsjährigen befand sich - Heinen zufolge - dementsprechend auf einem hohen Niveau, das Ähnlichkeiten mit dem Nordischen Modell aufwies, die Qualität war hingegen sehr unterschiedlich und hing nicht unwesentlich von der jeweiligen Finanzlage ab. Kostenlose Dienstleistungen und staatlich subventionierte Güter wie Wohnung, Gesundheit, Transport und die Grundversorgung mit Lebensmitteln waren jedoch in allen sozialistischen Staaten die Regel.
Doch die staatliche Fürsorge geriet nach dem Mauerfall 1989 praktisch über Nacht in Misskredit, "sie verschwand de facto von der politischen Agenda", so die Wissenschaftlerin. Die Hauptlast der neoliberalen Deregulierung hatten und haben die Frauen zu tragen. Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), welche die öffentlichen Ausgaben massiv beschnitten, bewirkten ein Herausdrängen der Frauen aus dem Arbeitsmarkt, Frühverrentungen und die Bevorzugung männlicher Arbeitskräfte. Die Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt führte - laut Heinen - zu fallenden Geburtenraten. Die gegenwärtige Situation der Frauen in Osteuropa gibt in Heinens Augen eher Anlass, ein "graues Bild" zu zeichnen.
Das skandinavische Erfolgsmodell
Deutlich erfolgreicher war langfristig aus der Frauen-Perspektive das skandinavische Modell einer partnerschaftlichen Familie in der beide Elternteile berufstätig sind, die Kinder durch staatliche Einrichtungen soweit nötig und gewünscht tagsüber betreut werden, und sich beide Partner (zumindest theoretisch) die Verantwortung für Kindererziehung und Hausarbeit teilen. Es wurde von der Politikwissenschaftlerin Prof. Christina Bergquist von der Uppsala University in ihrem Beitrag "Skandinavian Familiy Policies after 1945 in Comparison" vorgestellt.
In Dänemark, Finnland Island, Norwegen und Schweden erfuhr der Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefolge eines nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums eine starke Expansion. Mit Ausnahme von Finnland, das einen hohen Anteil von Frauen in Landwirtschaft und Industrie hat, waren die Männer Hauptverdiener. Doch seit den 1960er Jahren wurden Frauen verstärkt vom Arbeitsmarkt nachgefragt, so dass Familien mit zwei berufstätigen Elternteilen keine Seltenheit waren.
Als weltweit erstes Land führte Schweden 1974 den finanziell abgesicherten Elternurlaub ein: Mütter oder Väter konnten individuell entscheiden, wer in den Elternurlaub geht. Ein hohes Niveau der öffentlichen Kinderbetreuung verzeichnete die Wissenschaftlerin speziell in Dänemark und Schweden. Seit der neoliberalen Wende jedoch, die Anfang der 1990er Jahre infolge ökonomischer Krisen einsetzte, erfuhr der Wohlfahrtsstaat durch Dezentralisierung und Deregulierung eine Schwächung. Es zeichne sich nunmehr in den nordischen Ländern eine Tendenz ab, die öffentliche Kinderbetreuung zugunsten von stärker familienbezogener staatlicher Unterstützung zurückzunehmen.
Dennoch, folgerte Bergqvist, sei das skandinavische Modell bis heute eine Erfolgsstory, die sich durch den weltweit höchsten Anteil an weiblicher Beschäftigung und durch eine relative Geschlechtergleichheit auszeichne.
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