Die Zeitpolitiken Europas und Amerikas : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Die internationalen Bildungssysteme - dies zeigen historisch vergleichende Analysen der Wohlfahrtsstaaten in Ost und West von 1945 bis 2000 - nähern sich einander an.

Das Gros der ABC-Schützen in Deutschland, also rund 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler einer Grundschule, packen zwischen 12 und 13 Uhr ihre Ranzen, weil die öffentlichen Schulen ihre Tore schließen. Sofern die Mütter den Haushalt schmeißen, sind sie am Nachmittag auch als Nachhilfelehrerinnen gefragt. Bleibt summa summarum wenig Zeit für die Mütter in Deutschland, wenn sie Haushalt, Kindererziehung und Beruf verbinden wollen.

Welche Chancen haben die Reformansätze in Deutschland, darunter die bedarfsgerechte Ausweitung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote, angesichts einer historisch gewachsenen Tradition von Halbtagsschulen in Deutschland?

Ein deutscher Sonderweg?

Ein deutscher "Sonderweg" in Zeiten globaler wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Verflechtungen wirft weitere Fragen auf. Zum Beispiel, die nach der Anschlussfähigkeit des deutschen Bildungssystems an die europäischen Entwicklungen. Ein internationaler Workshop "Welfare State Regimes, Public Education and Child Care. Theoretical concepts for a comparison of East an West", versammelte prominente Wissenschaftler aus fast allen Staaten Europas sowie den USA und beschäftigte sich am 31. März und 1. April 2006 in Potsdam mit der Kernfrage: Warum gibt es in Deutschland das Halbtagsmodell in der öffentlichen Bildung und in vielen anderen Ländern in Europa - und das heißt auch in der überwiegenden Mehrzahl der europäischen Wohlfahrtsstaaten - ganztägige Betreuung und Bildung?

Ist die Zeitpolitik, das heißt "die Zeitstruktur öffentlicher Bildung" im Vorschul- und Grundschulbereich seit dem Zweiten Weltkrieg der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklungen? Der dramatische Rückgang der Geburtenzahlen, insbesondere bei Frauen mit akademischer Qualifikation, und die negativen Auswirkungen auf den Sozialstaat sprechen eine deutliche Sprache.

Die unterschiedlichen Zeitpolitiken in den europäischen Wohlfahrtsstaaten, einschließlich der USA, waren für die Forscherinnen und Forscher ein Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage. Die Aufgabe der komparativen Forschung bestehe darin, die jeweiligen Zeitpolitiken in ihren historischen, politischen, kulturellen, sozialen und pädagogischen Kontexten zu durchleuchten, so wie sie sich im Nachkriegs-Europa herauskristallisiert haben.

Paradigma "Zeitpolitiken"

Die gegenwärtigen theoretischen Diskussionen über Arbeit und Familie, dies betonte Prof. Kimberly Morgan von der George Washington University auf dem Potsdamer Workshop, fokussieren die Verteilung öffentlicher Zeit unter dem Vorzeichen der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung. Die Zeit, die Eltern für die Betreuung der Kinder, für Freizeit, Hausarbeit und für die bezahlte Arbeit (auch die Möglichkeit für Teilzeitarbeit) haben, sei abhängig von den Rahmenbedingungen, die die Politik setze. Da die Zeitpolitiken historisch gewachsen seien, blieben sie politischen Konjunkturen gegenüber relativ beständig.

Halbtags- oder Ganztagsmodelle der Betreuung und Bildung sind von Land zu Land höchst unterschiedlich, und dennoch gibt es die Möglichkeit, sie multiperspektivisch zu vergleichen. Aktuelle Entwicklungen unterstreichen die Bedeutung einer historisch-vergleichenden Erforschung, denn "die Bildungssysteme nähern sich in Europa an", so Cristina Allemann-Ghionda, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität zu Köln.

Die Forschung im Netz - das Netzwerk der Forschung

Der Internationale Workshop führt diese Diskussion mit einer eigenen Internetseite fort www.time-politics.com. Unter der Überschrift "Time Politics of Public Education in Post-War Europe (1945-2000). An East-West Comparison" bietet das Internetportal zusätzliche Informationsquellen und ergänzende Kommunikationswege für den Austausch von Arbeits- und Thesenpapieren, aber auch Literaturanregungen. Darüber hinaus dient die Website als Plattform, die die - ebenfalls international besetzte - Nachfolgekonferenz vorbereitet, die im März 2007 an der Universität zu Köln stattfinden soll. Sie ist die Basis des folgenden länderbezogenen Überblicks.

Kaum Halbtagsmodelle in Europa

In Ländern, in denen die Frauen - so die Kölner Erziehungswissenschaftlern Cristina Allemann-Ghionda - "Anschluss an den Arbeitsmarkt gefunden haben", findet sich in der Regel ein allgemeines System staatlicher Kinderbetreuung bzw. von Ganztagsmodellen. In den westlichen, vor allem den skandinavischen Ländern Schweden, Dänemark oder Norwegen, hat eine starke wohlfahrtsstaatliche Tradition für die Ausbreitung staatlicher Kinderbetreuung und schulischen Ganztagsangeboten gesorgt.

Über Parteigrenzen hinweg einigte man sich in Schweden und Dänemark auf ein einheitliches Konzept der Kinderbetreuung und Bildung. Inklusion und Integration - auf diese Formel lässt sich laut Tora Korsvold von der norwegischen Universität Trondheim der skandinavische Ansatz bis 1989 bringen. In Bezug auf die Gleichberechtigung der Frauen in Familie und Beruf bilden die skandinavischen Länder eine Ausnahme, die sie auch von den Ländern des ehemaligen sozialistischen Ostblocks unterscheiden.

Ganztagsmodelle in den Mutterländern der Demokratie

In den USA hatten die föderale Verfassung und ein liberaler Staat die allgemeine staatliche Kinderbetreuung und die Einführung von Ganztagsschulen zunächst erschwert. Die Kinderbetreuung - sagte Sonia Michel von der University of Maryland/ USA - wurde überwiegend privat und von der weißen Mittelklasse getragen. Es dominierte also die Halbtagsbetreuung. Seit 1960 wurde sie allerdings zur Angelegenheit des Bundes. Der Einstieg in das Ganztagsmodell begann in den USA mit der Einführung der "Comprehensive Schools", die heute rund 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler aufnehmen. Neuesten Zahlen zufolge brechen allerdings immer noch rund 30 Prozent eines Schülerjahrgangs mangels materieller Möglichkeiten die High School ab. Neben den staatlichen Schulen, die von den Städten und Landkreisen finanziert werden, bestehen zudem private und konfessionelle Schulen.

In Frankreich, dem eigentlichen "Mutterland" der Ganztagsschulen, habe der Staat eine "zentrale Rolle" für die frühzeitige Durchsetzung des Ganztagsmodells als republikanisches Erziehungssystem gespielt, so Cristina Allemann-Ghionda. Mit dem laizistischen Schulsystem sollte der Einfluss der Kirche auf Bildung und Erziehung gemindert werden. Das französische Ganztagsmodell von Bildung und Betreuung sollte auch die "sozialen Ungleichheiten durch das Schulsystem kompensieren", fügte Alleman-Ghionda hinzu. England wiederum habe sich am Ende des 19. Jahrhunderts primär aus sozialen Gründen dafür entschieden, das Ganztagsmodell einzuführen. Es sollte der verbreiteten Kinderarbeit ein Ende setzen und die Kinder der Arbeiterklasse vor Vernachlässigung und Verwahrlosung schützen.

Halbtag in Deutschland, Österreich und Italien

Deutschland, Österreich und Italien repräsentieren in Europa die "Minderheit" jener Länder, die aus unterschiedlichen Gründen ein Halbtagsmodell etablierten. Der "Sonderweg" Deutschlands zeichne sich nicht zuletzt dadurch aus, dass das Halbtagsmodell die Ständestrukturen des 19. Jahrhunderts reproduziere und damit Chancengleichheit und Integration aller Schülerinnen und Schüler erschwere. Diese Zuspitzung erntete jedoch einigen Widerspruch."Das Bildungssystem hat sich in Deutschland", so der Berliner Soziologe Prof. Hans Bertram von der Humboldt-Universität Berlin, "in den letzten Jahren reformiert". Juliane Jacobi, Professorin für Historische Bildungsforschung an der Universität Potsdam, mahnte ebenfalls eine differenzierte Sicht an: In seiner historischen Entwicklung habe sich das deutsche Schulsystem nachweislich und kontinuierlich sozial geöffnet.

Die vergleichende Erziehungswissenschaftlerin und Spezialistin für Italien, Frankreich und die Schweiz, Allemann-Ghionda, fügte hinzu: Im deutschen Teil der Schweiz sei der Anteil an Ganztagsschulen unbedeutend, im italienischen Teil dafür umso größer. Gleichheit der Geschlechter, Geburtenrückgang, soziale Isolation und das Problem der Working Poor sind heute die zentralen Argumente für die flächendeckende Ausweitung der Ganztagsschule in der Schweiz. Italien habe vor und während des Faschismus und unter der Vorherrschaft der katholischen Kirche zunächst kein Ganztagsmodell hervorgebracht. Grundlegende Reformansätze und die Forderung nach einem Gesamtschulsystem wurden erst in den 1950er und 1960er Jahren aktuell. Die Debatte um die Einführung eines Ganztagsmodells spalte bis heute die politischen Lager.

In Spanien nahm die katholische Kirche in der Bildungs- und Familienpolitik bis zur ersten spanischen Republik eine zentrale Rolle ein. Nach dem Ende des Franco-Regimes wurde der Einfluss der Kirche zurückgedrängt. Die Bildungspolitik habe seit Mitte der 1970er Jahre die Angebote im Bereich der Vorschulerziehung ausgebaut, um die "sozialen und kulturellen Unterschiede von Kindern zu verringern", sagte Celia Valiente von Universidad Carlos III de Madrid auf der Potsdamer Veranstaltung.

Zeitpolitiken im Ostblock und im Postsozialismus

"Der Sozialismus hat einiges geändert, aber vieles blieb beim Alten", befand Prof. Karen Hagemann, Historikerin an der TU Berlin und der University of North Carolina at Chapel Hill mit Bezug auf die Länder des ehemaligen Ostblocks. So war die DDR mit ihrer ungewöhnlich hohen Frauenerwerbsquote von 88 Prozent und einem flächendeckenden ganztägigen Betreuungsangebot für Grundschulkinder (von Klasse 1-4) durch Halbtagsschule und Hort in den 1980er Jahren eher ein Sonderfall. Zwar waren sowohl der Grad der Frauenerwerbstätigkeit als auch der Grad der ganztätigen Kinderbetreuung in allen sozialistischen Ländern deutlich höher als in vielen westeuropäischen Ländern. Doch sie übertrafen mit Ausnahme der DDR nie die Zahlen in Frankreich und Schweden mit ihren bereits in den 1980er Jahren ausgebauten Ganztagsschulsystemen.

In vielen Ländern des Ostblocks existierte die Halbtagsschule weiter, sie wurde aber durch außer- oder innerschulische Kinderbetreuung ergänzt, die sich in solchen Ländern - wie dem bis in die 1960er Jahre noch überwiegend agrarischen Polen - auf die Städte konzentrierte. Noch in den 1980er Jahren waren lediglich 60 Prozent des Betreuungsangebotes, das die Halbtagsschule ergänzte, ganztägig. Zudem stellte diese Politik - so Karen Hagemann - entgegen aller Emanzipationsrhetorik der sozialistischen Parteien nicht die geschlechtspezifische Arbeitsteilung in der Gesellschaft in Frage. Frauen blieben, auch wenn sie erwerbstätig waren, weiterhin für Haushalt und Familie zuständig.

Anhaltend wirkende Traditionen (wie der Einfluss des preußischen und habsburgischen Schulsystems in der CSSR sowie in Teilen Polens und der SU), dazu in Polen die Rolle der katholischen Kirche, sowie die konkrete ökonomische Situation (wie der Grad der Industrialisierung und Urbanisierung) und die bevölkerungspolitischen Interessen des Staates (d.h. der Kampf gegen den Geburtenrückgang): zusammen genommen waren dies wichtige Faktoren, die die unterschiedliche Ausgestaltung des Betreuungs- und Bildungsangebots in den sozialistischen Ländern beeinflussten, so Karen Hagemann.

Eine gezielte Politik wie in der DDR, wo der Staat aufgrund des Arbeitskräftemangels eine weibliche Vollerwerbstätigkeit förderte, war nicht überall in gleicher Weise anzutreffen. Ebensowenig eine spezifische Situation wie in Rumänien und Ungarn, wo Frauen aus ökonomischen Gründen darauf angewiesen waren, Vollzeitbeschäftigungen anzunehmen. In diesen Ländern hat der Staat seit den 1950er Jahren eine flächendeckende Kinderbetreuung und Ganztagsangebote eingeführt, die auch nach der Wende "in diesen postsozialistischen Ländern erhalten wurden", wenn auch nicht auf dem gleichen Niveau wie vor der Wende, ergänzte Dorottya Szikra von der ELTE University Budapest.

Der Wohlfahrtsstaat östlicher Prägung wird wegen seines paternalistischen Charakters von feministischer Perspektive auch kritisiert: "Abgesehen davon, dass die Frauen schlechter bezahlt werden, tragen sie die Hauptlast des Steueraufkommens und müssen auch den Großteil der Hausarbeit und die Kinderbetreuung erledigen", so Anca Gheaus vom New Europe College, Bukarest. Tschechien dagegen, habe mit der Einführung der Marktwirtschaft nach 1990 einen Zusammenbruch der staatlichen Kinderbetreuung erlebt, der "fatale Auswirkungen auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie" habe, bilanzierte Karel Rydl von der University of Pardubice.

Abschließend betrachtet kam es nach dem Fall der Mauer 1989/ 90 vor dem Hintergrund der globalen Ökonomie zu einer Erosion der dominierenden Rolle des Staates, so Allemann-Ghionda. Die Zeitpolitiken öffentlicher Bildung in Europa sind aber nicht starr, sondern veränderlich. Deshalb bleibe auch der "Bedarf nach komparativer Forschung weiterhin sehr hoch". Mit diesem Fazit schlug die Kölner Erziehungswissenschaftlerin den Bogen für die Nachfolgekonferenz in Köln 2007.

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