Die Schüler in den Mittelpunkt stellen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Was machen andere Nationen in ihrem Schulwesen besser, und welche Instrumente lassen sich von deutschen Schulen übernehmen? Auf dem Workshop "Lernen aus PISA - Individuelle Förderung an deutschen und internationalen Schulen" in Berlin berichteten Schülerinnen und Schüler von Schulen im Ausland.

In einem sind sich alle Schülerinnen und Schüler am 7. April 2005 auf dem Workshop "Individuelle Förderung an deutschen und internationalen Schulen" im "Hotel Berlin" einig: Wenn man einmal eine Schule im Ausland besucht hat, sieht man das eigene Schulsystem mit anderen Augen. Und die rund 30 Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland Gymnasien und Gesamtschulen besuchen, müssen es wissen, denn sie alle waren bis zu einem Jahr als Austauschschülerinnen und -schüler in Kanada, den USA, England, Irland, Frankreich, Polen, Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland.

Auf der Veranstaltung des Netzwerks Bildung der Friedrich Ebert-Stiftung sollten die Erfahrungen und Beobachtungen der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt stehen. Mit ihrer Hilfe wollen Politiker, Lehrer und Wissenschaftler herausfinden, woran es in deutschen Schulen fehlt und in welchen Bereichen man vom Ausland lernen kann, um zu den Nationen aufzuschließen, die bei den PISA-Studien hervorragende Ergebnisse erzielt haben. "Wir wollen die Erfahrungen aus dem Aus-und Inland bündeln und voneinander lernen", begrüßte Prof. Rolf Wernstedt die rund 60 Anwesenden. Wernstedt war 1997 als niedersächsischer Kultusminister Präsident der Kultusministerkonferenz, die damals beschloss, an der PISA-Studie teilzunehmen. "Lernen aus PISA" ist nun die Veranstaltungsreihe überschrieben, deren Einstieg dieser Workshop bildete.

Zu Beginn hielt der Bildungsjournalist Reinhard Kahl ein Impulsreferat, in welchem er seine gemachten Beobachtungen über die Lehr- und Lernkultur in deutschen und internationalen Schulen weitergab und dies mit kurzen Filmbeispielen untermauerte. In Schulen in Kanada und Skandinavien sei eine Kultur der Anerkennung viel selbstverständlicher als in Deutschland, das Verhältnis zwischen den Lehrerinnen und Lehrern und den Schülerinnen und Schülern weniger hierarchisch und ziele auf Ansporn und Ermutigung. "In Deutschland hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass sich gute Leistung und gute Atmosphäre gegenseitig ausschließen", so Kahl.

Autorität durch Vertrauen

Die Analyse des Journalisten teilten die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe in den sich anschließenden drei Arbeitsgruppen, die nach Ländergruppen aufgeteilt waren: In einer Gruppe fanden sich die anglo-amerikanischen Staaten, in einer die skandinavischen und die dritte wurde von Frankreich und Polen gebildet. Die Schülerinnen und Schüler befragten sich zunächst mit Hilfe eines Fragebogens systematisch nach ihren Erfahrungen und Beobachtungen. Im anschließenden Gespräch ermittelte die Gruppe mit Hilfe von Moderatoren der Servicestelle Jugendbeteiligung der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung die typischen Merkmale des erlebten Schulalltags im Ausland.

Marc Schmieder von der Servicestelle Jugendbeteiligung bei der Moderation einer Ländergruppe

Bei allen länderspezifischen Eigenheiten ergaben sich doch überraschend deutliche Übereinstimmungen. Die neun Schülerinnen und Schüler in der anglo-amerikanischen Gruppe berichteten unisono, dass ihr Verhältnis zu den Lehrerinnen und Lehrer tatsächlich viel gleichwertiger gewesen sei als hier zu Lande. Oftmals hätten sich die Lehrerinnen und Lehrer auch duzen lassen. Die Autorität des Lehrers habe darunter nicht gelitten. "Durch ihre Art erwarben sie sich das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler", erzählte Jonathan Germann vom Berliner Rückert-Gymnasium, der eine Schule in Quebec besucht hatte.

Auffällig war ebenfalls länderübergreifend, dass es keine Unterrichtsausfälle gab. War ein Lehrer krank oder verhindert, sprang immer ein anderer ein, der den Stoff nahtlos weitervermittelte. "Es war unglaublich, wie viel Personal - auch von den Lehrerinnen und Lehrern abgesehen - an unserer Schule tätig war", so Jonathan. "Wichtig war allen Lehrerinnen und Lehrern, dass jeder beim Lernen mitkommt." Es habe ein flexibleres Eingehen auf die Fähigkeiten des Einzelnen gegeben. Insgesamt seien die Lehrerinnen und Lehrer auch engagierter als an den eigenen Schulen gewesen: "Die blieben auch lange nach Unterrichtsende noch in der Schule und besuchten sich gegenseitig im Unterricht", so Jonathan.

Große Klassen kein Hindernis für guten Unterricht

Sarah Barkowski von der Jena-Planschule hatte eine Mädchenschule in Irland besucht. Unter den vielen Projekten, die dort angeboten wurden, fielen ihr besonders die Kurse zur Berufsorientierung, die so genannte career guidance, auf. Aus England berichtete Julia Egler vom Rosa Luxemburg-Gymnasium in Berlin, dass großer Wert auf den Praxisbezug des Gelernten gelegt wurde. Dort waren Lehrerinnen und Lehrer mit Berufserfahrung im Einsatz, die so auch aus anderen Bereichen praxisorientiertes Wissen vermitteln konnten.

Neben dem entspannten Lehrer-Schüler-Verhältnis und dem dadurch bedingten guten Schulklima, der ausreichenden Personaldecke und dem lebensnahen Unterricht lobten die Schülerinnen und Schüler auch die freie Fächerwahl und das große Angebot an Arbeitsgemeinschaften und Freizeitangeboten. Große Klassen von über 30 Jugendlichen, die es zum Beispiel in Kanada gegeben habe, seien dabei kein Hindernis für guten Unterricht gewesen. "Es gab viel Gruppenarbeit", berichtete Nadine Maas vom Rückert-Gymnasium.

Forderung nach umfassenden Lernen

Aber natürlich hatten die Jugendlichen auch Kritisches anzumerken: Die vielen, ständigen Multiple Choice-Tests, von denen auch die Schülerinnen und Schüler in der Skandinavien-Gruppe erzählten, seien "unterfordernd" gewesen. Das ausschließliche Fixieren auf Daten beispielsweise im Geschichtsunterricht habe ebenso gelangweilt wie das eher universitär anmutende Monologisieren in einer Schule in Quebec, bei dem Mitschreiben oder Einschlafen die Alternativen gewesen seien. Den Unterricht in Polen und Frankreich kritisierten die Schülerinnen und Schüler gleich im Gesamtpaket: "Im Vergleich dazu ist unser Schulsystem gar nicht so schlecht."

In diesen europäischen Nachbarländern gefielen den Jugendlichen die längere gemeinsame Schulzeit und die frühe Förderung der Kinder. Allerdings sei der lange Schultag in Frankreich sehr anstrengend gewesen, weil ganztägig der Lehrstoff durchgepaukt werde. Dazu kämen die sehr autoritären Lehrerinnen und Lehrer und das ausschließliche Fixieren auf die Noten. Aus Frankreich sollte das deutsche Schulsystem den veränderten Schulrhythmus mit der einstündigen Mittagspause übernehmen, der sich besser an den Biorhythmus anpasse, fanden die Schülerinnen und Schüler. Recherche- und Aufenthaltsräume, Angebote für Lerngruppen in der Schule und verstärkt praktisches Arbeiten wurden ebenfalls als sehr nachahmenswert für eine bessere Lernumgebung eingestuft.

Eine "lockere Atmosphäre" und ein "sehr gutes Lehrer- und Schülerverhältnis" konstatierten die Oberstufenschülerinnen und -schüler den skandinavischen Schulen. Dort gebe es eine gemeinsame neunjährige Schulzeit mit anschließender dreijähriger Oberstufe für diejenigen, die danach studieren wollten. Die Schulen genössen große Autonomie, die Lehrerinnen und Lehrer, die oft in Teams zusammenarbeiteten, seien keine Beamte. Für die deutschen Schulen stellten die Jugendlichen nach ihren in Skandinavien gemachten Erfahrungen unter anderem die Forderung auf, "die Schüler in den Mittelpunkt zu stellen, nicht die Lehrpläne". Ganztagsschulen sollten nicht als Schulen mit ausschließlich ganztägigem Unterricht organisiert werden, Lehrerinnen und Lehrer in der Ausbildung stärker pädagogisch geschult werden und sich ständig fortbilden. "Es sollte ein umfassenderes Lernen geben und nicht nur das Kurzzeitlernen auf einen Testtermin hin", so ein Fazit der Gruppe.

Auslandsaufenthalt erweitert den Horizont

Nicht nur die Schülerinnen und Schüler hatten sich in den Arbeitsgruppen ihre Gedanken gemacht, auch Lehrerinnen und Lehrer erarbeiteten in ihrer Arbeitsgruppe Forderungen an die Politik: Die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen, mindestens aber das Ermöglichen integrierten Lernens und das Abschaffen des Sitzenbleibens und Abschulens gehörten dazu: "Die Energie, die mit Aussortieren verschwendet wird, muss umgelenkt werden." Wie auch die Schülerinnen und Schüler hielten die Lehrerinnen und Lehrer verpflichtende Fortbildungen für unabdingbar. Für Ganztagsschulen forderten die Pädagogen die Einführung der Präsenzarbeitszeit für das Lehrpersonal. Bildungsstandards sollten eingeführt werden, den Weg dorthin sollten die weitgehend autonomen Schulen aber selbst bestimmen können. Die Einbeziehung des Umfelds der Schule und das Hereinholen von Experten in die Schulen wurden ebenfalls als wichtige Ziele genannt. Ulrike Kegler, die Schulleiterin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam, wünschte sich das Beachten guter Beispiele, den "Blick über den Gartenzaun", für alle Schulen in Deutschland.

Die Austauschschülerinnen und -schüler hatten diesen Blick sogar in andere Länder geworfen und sahen dies als persönliche Bereicherung: "Ein Auslandsaufenthalt erweitert den Horizont um Längen, und man kommt motivierter zurück. Hier bin ich nie gerne zur Schule gegangen, dort hat mir die Schule wirklich Spaß gemacht", meinte eine Schülerin.

Auch der Blick der Erwachsenen auf die Jugendlichen wurde erweitert. Die Ernsthaftigkeit und Souveränität, mit welcher die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse erarbeiteten und präsentierten, fand den Respekt der Erwachsenen. "Seid Ihr für Eure Mitschülerinnen und Mitschüler eigentlich repräsentativ?". fragte eine Lehrerin ungläubig. "Viele haben einfach keinen Bock und interessieren sich nicht für die Schule", gaben die Gefragten offen zu. Möglicherweise lassen sich diese Schülerinnen und Schüler durch einen besseren Unterricht und ein anderes Schulklima aber gewinnen, so wie es Schulen im Ausland vormachen.

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