Ganztagsschulen in Frankreich : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Ein deutsch-französisches Expertentreffen widmete sich dem Thema Ganztagsschulen. Dazu gehörten Schulbesuche in Nanterre und einAustausch mit der Gemeinde Nanterre, aber auch Besuche der Académie française und der Sorbonne.
Ein international bekanntes Symbol - und Inbegriff - für den hohen Anspruch des französischen Bildungssystems ist die Pariser Sorbonne. Im Ballsaal dieses altehrwürdigen Ortes konnten die deutsch-französischen Experten für Ganztagsschulen ein zeitlos anmutendes Gemälde betrachten. Es zeigt die Zukunft als Frau auf einem Pferd: "L'avenir", die Zukunft als Verheißung. Ganztagsschulen qualifizieren in Frankreich auch für Spitzenuniversitäten, es sind im Prinzip Zukunftsschulen für alle. Auch in Deutschland heißen Ganztagsschulen nicht ohne Grund "Zukunftsschulen", und Bildung ist das Zukunftsthema Nummer eins geworden.
Frankreich und Deutschland verfolgen seit dem schlechten Abschneiden bei PISA I und II nunmehr ein grenzüberschreitendes Ziel: Die Zukunft der Kinder und Jugendlichen gemeinsam gestalten. "Der Bürger von morgen wird kontinuierlich erzogen, ob es regnet, ob es schneit, ob die Wirtschaft blüht oder nicht", sagte der Bürgermeister Patrick Jarry von Nanterre.
Vom Nachbarn lernen
Wie wachsen die Kinder und Jugendlichen in Frankreich als Bürger und Erwachsene heran und was können Ganztagsschulen in Deutschland vom Nachbarn lernen?

Es ist ein entscheidender Unterschied, ob man Informationen und Eindrücke aus zweiter Hand serviert bekommt oder vor Ort die Realitäten kennen lernt. Lernen zwischen Nationen kann wohl nur durch regelmäßigen Erfahrungsaustausch gelingen. Schon beim abendlichen Empfang und gemeinsamen Essen am 6. Juni 2005 in Paris begann die gemischte Delegation nach anfänglichem Zögern merklich aufzuleben: Man hörte zu, man verglich, man lernte aus Unterschieden.
Frankreich war mit Pierre Polivka, Anne Duterte, Elisabeth Fröchen und Jean Denis vom französischen Bildungsministerium sowie von den Schulleitern Eric Pateyron von der Grundschule Ecole Honoré de Balzac, Nanterre und Gérard Willeme vom Collège Jean Jaures, Pantin vertreten. Zur deutschen Delegation gehörten Hans-Konrad Koch, Petra Jung, Petra Gruner vom Bundesbildungsministeriums sowie Vertreter aus den Ländern. Aus Hessen kamen Wolf Schwarz, vom Kultusministerium, Constanze Schneider als Schulleiterin der Herrmann-Ehlers-Gesamtschule, Wiesbaden. Rheinland-Pfalz wurde durch Johannes Jung, Elisabeth Bittner, Hans-Jürgen Langen vom Bildungsministerium vertreten sowie von Helmut Wagner, dem Schulleiter der Grund- und Hauptschule Mainz-Mombach.
Eine Vorzeigeschule in Nanterre
Eine gemeinsame Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch den Großstadtdschungel von Paris kann auch ein Bildungserlebnis sein. Mit der Metro führte die Fahrt am nächsten Morgen nach Nanterre, einer kleinen Nachbargemeinde von Paris. Das Departement Haute-Seine, zu dem Nanterre gehört, zählt zu den reichsten in Frankreich. Das gilt allerdings nicht für die Gemeinde Nanterre, und auch nicht für die Ecole Honoré de Balzac. Von außen betrachtet, war es eine Schule, wie jede andere auch, die zudem von Hochhäusern umgeben war. Sie hätte genauso gut irgendwo in einem Brennpunktbezirk in Deutschland stehen können.
Innerhalb des funktionalen und gleichförmigen Schulgebäudes spielte aber eine andere Musik: Fröhliche, neugierige Kinder. Außerdem: "Geregelt, leise, sauber, eine Vorzeigeschule" meinte Wolf Schwarz vom hessischen Kultusministerium. Jeder Klassenraum dieser Grundschule stand weit offen und ob man nun den Mathematikunterricht, Geographie oder Französischunterricht besuchte, überall wurde man Zeuge eines ruhigen und konzentrierten Lehr- und Lernbetriebs.
Und das angesichts eines ganztägigen Schultags, der seinen Namen auch verdient: Unterricht von 8.30 bis 16:30 für 357 Kinder. Von 16:30 bis 18:00 Uhr betreute Schularbeiten und nach 18 Uhr Freizeitbetreuung für 40 Kinder. Ein Mammutprogramm. Während die Lehrerinnen und Lehrer vom nationalen Bildungsministerium bezahlt werden, wird die Nachmittagsbetreuung von der Gemeinde finanziert. Essen können die Kinder flexibel in der vorgesehenen Mittagspause. Das gekühlt gelieferte Essen wird vor Ort aufgewärmt und kostet bis maximal 3 Euro (Vorspeise, Hauptgang, Nachtisch inklusive). Schulen sind in Frankreich nicht verpflichtet, Essen anzubieten.
Ein Tag in einer französischen Schule
Wie sieht ein Schultag in der Ecole Honoré de Balzac aus? Sebastian Albert, ein Schulassistent, greift einen ganz normalen Tag, Montag, den 6. Juni 2005 heraus. Vormittags hat die fünfte Klasse EDV-Unterricht. Dazu wird die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt: während eine Gruppe an den mit neuester Technik und Software ausgestatteten 13 Rechnern arbeitet, bekommt die andere Gruppe normalen Unterricht. Nachmittags findet Sportunterricht statt: "Es gibt Tage, die nur durch EDV oder Sport geprägt sind", sagt der Schulassistent.
In der Schule war vieles vorhanden, was eine ganztägige Schule benötigt, um Unterricht und ergänzende Angebote durch Lehrpersonal sowie externe Fachkräfte organisch zu verbinden: Bibliotheken, Sportanlagen, Computerräume; allerdings fehlten Ruheräume, Nischen für die Kinder oder separate Räume für das Lehrpersonal. "Unsere Aufgabe ist es, Staatsbürger zu erziehen", sagte der Inspektor für Pariser Schulen im französischen Erziehungsministerium, Pierre Polivka. Und Polivka ergänzte: "Die Schulen haben die französische Nation hervorgebracht."
Während des Rundgangs durch die Grundschule von Eric Pateyron wurde aber auch klar: Schulen werden in Frankreich von oben nach untern hierarchisch gesteuert und oberster Pädagoge ist der zentrale Staat. Das kam in der darauf folgenden Expertenrunde zum Thema "Evaluation" klar zur Sprache.
Prüfen und auswerten

Evaluierung beginnt in Frankreich bereits in der Vorschule. Laut Inspektor René-Pierre Rabaux vom nationalen Erziehungsministerium werden die Zielstellungen des Ministeriums auf jeder Ebene von spezifisch Verantwortlichen realisiert: "Wir bekommen die Ziele vorgegeben. Die Umsetzung hängt von lokalen Gegebenheiten der Region oder des Departements ab." Erste Evaluierungen finden bereits zum Ende der Vorschule statt, während eine zweite Evaluierung zum Ende der dritten Klasse stattfindet. Eine letzte Evaluierung gibt es im ersten Jahr der Sekundarstufe. "Alle Lehrer haben die Aufgabe, die Ziele, die national festgelegt werden, in der Schule umzusetzen", bestätigt Schulleiter Eric Pateyron.
Gegenstand der Evaluierung sind die Schulsprache und mathematisches und räumliches Verstehen, beispielsweise Mathematik. Ein Schwerpunkt ist die Hilfe für Schülerinnen und Schüler, die besondere Schwierigkeiten haben sowie die individuelle Förderung. All dies ist auf nationaler Ebene 1989 per Gesetz, das so genannte loi d'orientation, festgelegt worden. Die Evaluierungen sind in ein mehrstufiges Zyklussystem eingebettet, das alle Schülerinnen und Schüler durchlaufen. Zur Illustration wird ein "cahier d'élève" herumgereicht. In diesen standardisierten Prüfungsheften gibt es Multiple-Choice-Aufgaben sowie Übungen wie z.B. Formulieren von Sätzen.
Die Feuerwehr der Schwächeren
Die Prüfungsergebnisse der Evaluierungen werden zunächst vom Lehrerkollegium ausgewertet. Diese laufen dann auf nächst höherer Ebene im Schulbezirk zusammen. Schließlich werden sie vom nationalen Erziehungsministerium ausgewertet, dass entsprechende Maßnahmen daraus ableitet. Eine logische Konsequenz dieser Evaluierungskultur ist auch die Ausrichtung der Lehreraus- und Fortbildung auf dieses System. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in einem engmaschigen Netzwerk, dem RASED (Réseau d'Aides Spécialisées aux Elèves), mit externen Fachkräften der Schule zusammen. Ihr Hauptaugenmerk gilt schwachen Schülerinnen und Schülern. Hintergrund ist das Prinzip der Gleichheit: "In Frankreich gilt das Prinzip der Gleichheit noch vor dem der Freiheit", erläutert Pierre Polivka.
Eine enge Zusammenarbeit mit den Familien ist Pflichtaufgabe des Netzwerkes: "Wir überlegen, wie die Kinder erzogen werden können", sagt Mme Dhaou, die Schulpsychologin. Dazu gehöre das Einüben von Regeln, Grenzen setzen, Erziehung zur Sauberkeit. Wenn Erfolge in der Zusammenarbeit mit den Eltern ausbleiben, dann tritt ein Hilfsnetz in Aktion: "Wir leiten die Eltern behutsam in die richtige Richtung", so Dhaou weiter. Unterstützung bekommen sie dabei von einem kostenfreien System, dem medizinisch-,psychologisch-, pädagogischem Zentrum (Centre médico-psycho-pédagogique) in Nanterre.
Prinzipiell wird in kleinen Gruppen gearbeitet: externe Fachkräfte kommen in den Unterricht und entwickeln zusammen mit den Lehrkräften ein Förderkonzept für die Kinder. Alle externen Fachkräfte des Netzwerkes waren zuvor im Lehrerberuf tätig. Um ihrer Aufgabe im Rahmen von RASED gewachsen zu sein, haben sie spezielle Ausbildungen etwa in Psychologie oder Psychomotorik durchlaufen. Ein Gedanke des Netzwerkes ist auch die Prävention, denn viele sozial schwache Familien in der Gemeinde Nanterre sind mit ihrem Nachwuchs überfordert und greifen zu Gewalt, Missbrauch u.ä. Hier zeigt sich auch: die Probleme in Frankreich und Deutschland ähneln sich.
Eine Frage guten Willens
In Frankreich greift ein Rädchen in das andere. Wenn der Schulgong 16:30 geschlagen hat, kommt die Gemeinde ins Spiel. So wird die außerschulische Betreuung an der Ecole Honoré de Balzac von der Gemeinde Nanterre finanziert. Einfluss auf die Lehre hat sie damit aber nicht: "Ich habe keinen Einfluss auf pädagogische Fragen", so Jarry. Das Budget, das die Stadt zur Verfügung stellt, hängt vom politischen Willen des Bürgermeisters ab: "Manche Gemeinden sind sehr sparsam, manche sehr großzügig", erläutert Pierre Polivka. Ein Ausdruck der großzügigen Bildungspolitik von Nanterre und dem Departement Haute-Seine ist eine überdurchschnittlich hohe Geburtenrate in Frankreich.
Schulen in Frankreich zeichnen sich durch eine strikte Trennung von Schule und Wirtschaft aus: "Die Welt des Geldes ist dem französischen Erziehungssystem fremd", so Bürgermeister Jarry.
Wie weit sich Schule in Frankreich den Externen öffnet, ist Gegenstand einer intensiven gesellschaftlichen Debatte in Frankreich. Polivka unterscheidet zwei Lager: jenes, das eine moderne und offene Schule fordert und jenes, das die traditionelle Schulen erhalten will, an denen ein breites Grundwissen vermittelt wird. "Die Öffnung der Schulen zur Welt ist eine Gratwanderung. Das Thema hat aber größte Priorität", so Inspektor Rabaux.
Insbesondere auf diesem Feld möchten französische Schulen von ihrem deutschen Nachbarn vieles lernen, wie die Diskussion unter den Experten belegte. Lesen Sie im zweiten Teil des Berichtes, den Fortgang der Diskussionen. Lesen Sie auch, wie Frankreich den Übergang zwischen Grundschule und Sekundarstufe organisiert und welche Perspektiven sich für einen intensiven Erfahrungstransfer eröffnen könnten.
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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