Die Augen und Ohren der Minister : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Gemessen an deutschen Verhältnissen sind Schulen in den Niederlanden Hochburgen der individuellen Förderung und der Schulautonomie. Rob L. Schouten, Inspektor für Sekundarschulen bei "Inspectie van het Onderwijs" im Gespräch mit der Online-Redaktion.
Online-Redaktion: Holland schaffte es bei PISA in die Spitzengruppe, Deutschland nur ins OECD-Mittelfeld. Welche Rolle spielt die Schulinspektion für den niederländischen PISA-Erfolg?
Schouten: Seit dem erfolgreichen Abschneiden der Niederlande bei PISA gibt es ein reges Interesse der Länder an unserem Modell der Schulinspektion. Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland haben sich zuletzt bei uns darüber informiert, welche Rolle die Schulinspektion in Holland für das erfolgreiche Abschneiden bei PISA spielt. Neulich bekamen wir sogar Besuch aus Österreich.
Doch das Interesse Deutschlands ist gar nicht so neu. Auch Kollegen aus Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt waren vor drei Jahren schon bei uns. Als Projektleiter war ich damals für Kontakte mit Deutschland verantwortlich. Die Länder wollten herausfinden, auf welche Weise wir die Schulen inspizieren und zu diesem Anlass haben sich die deutschen Kollegen mit unserer Arbeitsweise vertraut gemacht und entsprechende Schulbesuche gemacht. Wir haben seinerzeit unseren Kriterienkatalog der Schulinspektion auch auf Deutsch übersetzt.
Online-Redaktion: Was beobachten Sie in den Schulen?
Schouten: Eigentlich drei Dinge, obwohl wir 122 Indikatoren allein für die Qualität entwickelt haben. Wir richten den Blick zum einen auf die Ergebnisse bzw. die Abschlüsse am Ende der Schule, in Holland sind zentrale Prüfungen. Dann messen wir die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten zwischen den Schulen, um etwas über die Qualität der Primärprozesse zu erfahren. Dafür gehen wir in den Unterricht rein und beobachten die Unterrichtsstunden.
Unsere Schulbesuche dauern ein bis zwei Tage. Wir bringen dafür Erhebungsbögen mit, um zu erfassen, ob der Unterricht pädagogisch in Ordnung ist: Wird der Unterricht sicher gehalten, ist er stimulierend und didaktisch-methodisch modern? Das sind die wichtigsten Aspekte dieser Erhebung. Wir schauen dafür nicht nur auf die Lehrerseite, sondern auch auf die Schülerinnen und Schülern. Als Ergebnis bekommt die Schule von den Inspektoren eine Beurteilung ihrer Unterrichtsqualität. Doch in Holland gibt es noch ein drittes wesentliches Element der Schulinspektion, und das ist die Frage nach dem Qualitätsmanagement. Hat die jeweilige Schulleitung ein Konzept entwickelt, das sie systematisch umsetzt?
Bestimmte Merkmale sind bei den erfolgreichen PISA-Ländern übrigens besonders wichtig. Dazu gehört insbesondere die Durchführung von Vergleichtests. Die Rolle der Schulinspektion wird ja schon dadurch evident, dass hinter jedem Lernprozess eine Organisation steht. Das trifft zwar nicht auf alle erfolgreichen PISA-Länder zu: Schweden hat z. B. eine zeitlang Schulinspektionen eingeführt und diese dann wieder aufgegeben. Nun versuchen sie es erneut, aber mit anderen Mitteln, während Finnland nach wie vor auf Schulinspektionen verzichtet.
Online-Redaktion: Wieso haben die Schulinspektionen in den Niederlanden die Oberhand gewonnen?
Schouten: Die Rolle der Schulinspektoren wurde noch zu Napoleons Zeiten eher traditionell verstanden, sie waren aber damals schon die Augen und Ohren der Minister. Doch viel mehr als ein Gespräch mit den Schulleitern und das Verfassen eines kleinen Berichts erforderte die Schulinspektion seinerzeit nicht.
Ein Zeitsprung: Ende der 80er Jahre geriet die Schulinspektion in eine Krise, weil unsere Finanzkammer kritisierte, dass die Inspektoren viel zu viel kosteten, obwohl sie keine entsprechende Leistung erbrächten. Infolgedessen wurden die Ansprüche an die Professionalität und Qualität der Schulinspektion deutlich angehoben, und es hat sich eine Verabredungskultur - Ziele festsetzen und überprüfen - durchgesetzt. Alle Inspektoren bekommen seitdem eine Fortbildung, damit sie zum Beispiel bei der externen Evaluation die gleichen Verfahren anwenden.
So sind wir in den 90er Jahren endlich eine professionelle Organisation geworden. Früher hatte jeder Kollege seine eigene Auffassung über die Qualität der Einzelschulen, jetzt tauschen sich die Schulinspektoren über die Zielvereinbarungen und Verfahrensweisen miteinander aus.
Wir inspizieren insgesamt 8.000 Schulen im Primar- und Sekundarbereich sowie in den Berufskollegien, die wir alle vier Jahre besuchen. Nach zwei Erhebungszyklen konnten wir feststellen, dass dreiviertel aller Schulen in den Niederlanden gute Schulen sind. Diese Schulen haben nämlich gezeigt, welche Qualität in ihnen steckt. Doch drei bis vier Prozent aller Schulen betrachten wir als sehr schwach, das heißt, dass dort die Lernprozesse und die Ergebnisse verbesserungswürdig sind und dass es auch keine Managementqualität gibt.
Ein Großteil dieser Schulen liegt in Brennpunktbezirken, nicht wenige aber liegen auch in ländlichen Regionen. Außerdem haben wir 20 Prozent Schulen, die stark verbesserbar sind. Im neuen Erhebungszyklus sind diese Schulen als schwach eingestuft worden, weil wir keine Schulen brauchten, die im Zwischenfeld liegen. Solche Messlatten sind deshalb wichtig, damit diese Schulen einen Anreiz bekommen, sich einen Maßnahmenkatalog zu verordnen und die notwendige Unterstützung selber besorgen.
In Holland gibt es übrigens ein umfangreiches Unterstützungssystem, und Schulen verfügen über ein eigenes Budget, mit dem sie sich Partner A, B oder C beschaffen können, um den Unterricht der Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen. Zur Erinnerung: Wir haben nur ein Prozent Privatschulen, während 99 Prozent vom Staat unterhalten werden. Es gibt evangelische, katholische und öffentliche Schulen, die vom Staat alle den gleichen finanziellen Rahmen gestellt bekommen.
Online-Redaktion: Nur Sonnenschein in Holland, oder gibt es auch Probleme?
Schouten: Wenn ich Holland mit anderen PISA-Ländern vergleiche, dann sehe ich ähnliche Probleme in den soziale Brennpunktbezirken und bei der Integration der Migrantinnen und Migranten. Hier haben wir ähnliche Probleme wie Deutschland, Frankreich oder England.
Online-Redaktion: Und welche Lösungsansätze haben die Niederlande entwickelt?
Schouten: Eine große Rolle spielt die individuelle Förderung. Wir geben im Vergleich zu Deutschland wesentlich mehr Geld für individuelle Förderung aus. Wenn ich deutsche Schulen besuche, wundere ich mich immer wieder darüber, wie wenig sie im Bereich der individuellen Förderung unternehmen.
Einen Schwachpunkt in Holland sehe ich aber darin, dass die Lehrerinnen und Lehrer im Sekundarbereich noch schlecht differenzieren können. Im Primarbereich sind wir viel besser. Allerdings hat jede Schule bei uns ein System der Förderung und Betreuung. Die Basis dafür ist der Förderplan und jede Schule hat einen eigenen Förderkoordinator. Eine wichtige Rolle spielen ferner die Klassenlehrer, die eine starke Bindung zu den Schülerinnen und Schülern entwickeln. Sie setzen sich mit den Koordinatoren zweimal in der Woche zusammen und besprechen dabei alle förderungsbedürftigen Schülerinnen und Schüler. Wenn zum Beispiel die Muttersprache schwach entwickelt ist, bekommen die Schülerinnen und Schüler eine intensivere Sprachförderung durch die Fachlehrer. Außerdem arbeiten die Lehrerinnen und Lehrer in enger Abstimmung mit Schulpsychologen und anderen außerschulischen Mitarbeitern.
Die Kernziele der Schulen werden durch den Staat zentral vorgegeben und jeder einzelne Lehrer, weiß wohin er kommen muss. Alle Schulen haben aber die freie Wahl, wie sie das Ziel erreichen. Allerdings garantieren hochwertige Lernmaterialien eine gute Unterrichtsqualität.
In Deutschland gibt es viel weniger gleichwertige Schulbücher als in den Niederlanden. Das mag den Vorteil haben, dass ein deutscher Lehrer in aller Freiheit darüber entscheiden kann, wie er seinen Unterricht gestaltet. Aber das Problem taucht dann auf, wenn der entsprechende Lehrer relativ schwach ist, oder er nicht so gut mit seinen Kollegen kommunizieren kann. In den Niederlanden bringen wir alle Kinder zu verbindlich vereinbarten Zielen. Dies gewährleisten nicht zuletzt die Zentralprüfungen. Außerdem haben wir eine Prüfungskultur, die schon im Primarbereich beginnt.
Online-Redaktion: Was zählt noch zum niederländischen Erfolgsrezept?
Schouten: Im Vergleich zu Deutschland haben wir viel mehr in die Verknüpfung von Schule und außerschulischen Aktivitäten investiert. Die Kinder bleiben darüber hinaus vom vierten Lebensjahr an acht Jahre lang gemeinsam in der Grundschule. Wenn sie dann mit 15 Jahren bei PISA "gemessen" werden, hatten sie im Durchschnitt 20 Prozent mehr Unterricht als in Deutschland. Seriöser Unterricht wird bei uns bis mindestens um vier Uhr nachmittags angeboten, egal ob in Mathe, Sprache oder Chemie. Vor allem in den Fächern, die entscheidend für PISA sind, kriegen unsere Kinder viel mehr Unterricht. Hier sehe ich einen entscheidenden Baustein für Qualität.
Eine zentrale Rolle spielt auch das Management. Mir ist in Deutschland und Österreich aufgefallen, dass der Schulleiter dort primus inter pares ist, wie bei uns früher übrigens auch. Doch heute ist die Schule für uns wie ein Betrieb, und es muss jemand geben, der sich für die Ziele verantwortet. Deshalb haben wir den Schulen und den Schulträgern Mitte der 1990er Jahre Autonomie gegeben. Sie haben mehr oder weniger freie Hand, das Geld so einzusetzen wie sie es für die Schulentwicklung benötigen. Sie können damit etwa Lehrerinnen und Lehrer und Freizeitpersonal einstellen. In sozialen Brennpunkten braucht man nämlich Lehrkräfte und außerschulisches Personal, die vor allem gute Kontakte und Bindungen mit den Kindern und Jugendlichen aufbauen.
Online-Redaktion: Sind intensive Schulkooperationen in den Niederlanden auch eine Folge der Probleme in den sozialen Brennpunktbezirken?
Schouten: Die engere Zusammenarbeit zwischen Schule und ihren außerschulischen Partnern ging in den Niederlanden von den sozialen Brennpunkten aus, sie entsprang also seit Mitte der 1990er Jahre einer Basisbewegung. Seitdem beteiligen sich immer mehr Schulen, und das Angebot wird immer reicher und reifer. Ich sehe diese Entwicklung sehr positiv, und unsere Regierung hat sich nun dafür ausgesprochen, "Brede School", also breite Schulkonzepte in Holland aufzubauen. "Breites Schulkonzept" heißt es deswegen, weil es neben dem Fachunterricht auch außerschulische Projekte mit Kooperationspartnern anbietet.
Großen Wert lege ich auf den Aspekt "PISA und Ganztagsschule". In holländischen Schulen liegt die Wochenstundenzahl zwischen 33 und 36 Stunden. Deutsche Ganztagsschulen dürfen nämlich nicht vergessen, dass - bei allen tollen Angeboten, die am Nachmittag zum Beispiel im Sport- oder Kulturbereich gemacht werden - auch das PISA-Problem gelöst werden muss, und dass dabei der klassische Unterricht nicht vernachlässigt werden darf. Das Fach Mathematik sollte wesentlich praxisorientierter unterrichtet werden, das heißt, dass die Schülerinnen und Schüler sich grundlegendes Wissen wie den Pythagorassatz im Kontext erarbeiten sollten.
Die Lehrerinnen und Lehrer sollten ferner zu mehr Verbindlichkeit angehalten werden, und das Management muss eine zentrale Rolle erhalten, damit die Schule die Ziele, die sie sich gesetzt hat, oder mit anderen Akteuren zuvor vereinbarte, auch erreichen kann. Das altmodische Modell, in welchem der Schulleiter wenig Einfluss hatte, müsste ersetzt werden. Ich bin auf dem Ganztagsschulkongress zwar auf einen Schulleiter aus Oldenburg getroffen, der sich selbst als Schulmanager versteht, doch dieses Phänomen ist in Deutschland wohl eher eine Ausnahme.
Von dem Ganztagsschulkongress in Berlin nehme ich übrigens die Erkenntnis mit, dass die Schule und ihre außerschulischen Partner oft Probleme haben, sich dauerhaft zu verbinden. Auch deshalb unterstütze ich das integrative Modell, das ebenso am Vormittag Aktivitäten zur Entspannung und Konzentration vorsieht. Nach zehn Jahren erfolgreicher Schulpolitik dürfen aber auch wir in Holland nicht stehen bleiben, sondern wir müssen weitere Schritte nach vorne machen, um eine größere Nachhaltigkeit zu erreichen.
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