Wie kommt Forschung in die Praxis? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Wie müssen Bildungsprozesse gestaltet werden, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden? Über diese und weitere Fragen diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Praxis in Berlin.

Seit 2007 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit einem Rahmenprogramm verstärkt die empirische Bildungsforschung. 2012 organisierte das BMBF eine Bildungsforschungstagung, auf der eine erste Zwischenbilanz der breit gefächerten Forschungsaktivitäten gezogen wurde. Am 27. und 28. März 2014 folgte nun die zweite Tagung „Bildungsforschung 2020 – Zwischen wissenschaftlicher Exzellenz und gesellschaftlicher Verantwortung“. Sie bot ein Forum für den interdisziplinären Austausch über das Zusammenwirken von Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis.

Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im BMBF, konnte sich bei seinem Grußwort über ein vollbesetztes Plenum im andel´s Hotel in Berlin-Lichtenberg freuen: „Wir wollen den Dialog zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik fortführen und auch kritisch diskutieren, ob wir durch die Bildungsforschung wirklich Handlungswissen erlangen.“ Die Bildungsforschung habe viel erreicht, Einsichten über Spracherwerb, Mehrsprachigkeit und Migration befördert und insbesondere wichtige Erkenntnisse zum Thema Bildungsungleichheit geliefert.

Bildungsforschung für die Praxis

Prof. Kai Schnabel Cortina von der University of Michigan, von 1990 bis 2000 Forscher am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitherausgeber von dessen Bildungsbericht „Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland“, bilanzierte in seinem Hauptvortrag, man habe es sich „vor 20 Jahren nicht träumen lassen, welche sichtbare Bedeutung die Bildungsforschung heute einnimmt“. Der Erziehungswissenschaftler und Entwicklungspsychologe erinnerte daran, dass die Bildungsforschung nur ein Nischendasein gefristet habe, das Medieninteresse gering gewesen sei. „Die Wiedervereinigung löste dann im Bildungswesen eine Dynamik aus, die die politische Sphäre weit vor PISA 2000 erreichte.“

Das Qualitätsniveau der geförderten Projekte sei „erstaunlich und faszinierend“: „Die Bildungsforschung kann auf die Diversität ihrer Projekte stolz sein.“ Es gebe aber auch Defizite, so etwa die fehlenden Anreize für eine stärkere Forschung zur Implementation der Forschungserkenntnisse in die Praxis. Stattdessen werde die Praxis häufig aus der Forschung abgeleitet. „Gute pädagogische Praxis lässt sich nicht nur aus analytisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten – Praxis lässt sich aber wissenschaftlich erforschen und analysieren.“

An einem Forschungsbeispiel zeigte der Wissenschaftler, wie auch ein gut begründeter Forschungsansatz manchmal durch die Praxis revidiert werde. Dies solle von der Wissenschaft aber nicht als Schwäche verstanden werden, vielmehr sollten Veränderungen in Implementationszyklen offen einbezogen und kommuniziert werden.

Darüber hinaus formulierte Cortina den „dringenden Appell“, wissenschaftliche Erkenntnisse in guten Forschungssynthesen für Praktiker aufzubereiten, wie dies seit 2002 in den USA mit der Initiative „What Works Clearinghouse“ des Institute of Education Sciences (IES) begonnen hat. Dort werden themenbezogene Broschüren von renommierten Forschern für die Schulpraktikerinnen und -praktiker verfasst. „Wir brauchen eine bessere Forschungsaufbereitung für die Praktiker!“, schloss Cortina.

Da Themenspektrum der insgesamt 14 Foren, für die sich die fast 400 Teilnehmenden an den beiden Tagen entscheiden konnten, spiegelte die gesamte Breite der Förderung des BMBF im Bereich der Bildungsforschung. Es reichte von „Diversität und Chancengerechtigkeit im Bildungssystem“ (Forum 1) über „Kompetenzorientierung in der Hochschule“ (Forum 5), Professionelles Handeln in Kindertageseinrichtungen und Schule“ (Forum 6), „Mehrsprachigkeit als Ressource“ (Forum 10),  die außerschulische Bildung (Forum 11) bis zur Unterrichtsforschung „Unterrichtsqualität braucht Fachlichkeit“ (Forum 14). Hinter diesen Themen verbergen sich größere Förderlinien, die das BMBF in den letzten Jahren ausgeschrieben hat und die sich den aktuell brennenden Fragen im Bildungssystem zuwenden. Im Vordergrund unseres Bericht soll hier die Forschung zur Ganztagsschule stehen.

Wie kommen Forschungsergebnisse in die Praxis?

Um genau diesen Themenkomplex drehte sich Forum 4 unter der Überschrift „Effektivitätsforschung zu Large-Scale-Reformen – Ziele, Nutzen und Grenzen am Beispiel der Ganztagsschulforschung“. Das von Prof. Ludwig Stecher (Justus-Liebig-Universität Gießen) und Prof. Ivo Züchner (Philipps-Universität Marburg), zwei Experten aus dem Team der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG), geleitete Forum brachte Akteure aus der Bildungsforschung und der Bildungsverwaltung zusammen. Es wurden Studienbeispiele auf Bundesebene und aus den beiden Ländern Hessen und Nordrhein-Westfalen vorgestellt – vor allem aber die Wege, wie deren Ergebnisse jeweils der Bildungspraxis zurückgespiegelt worden sind.

 

Für die StEG erläuterte die Projektkoordinatorin Dr. Natalie Fischer vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) den Transfer der bundesweiten Studie, bei der in drei Erhebungswellen 2005, 2007 und 2009 rund 54.000 Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und pädagogische Partner zum Stand der Ganztagsschulentwicklung in ihren Schulen befragt worden waren.

„Das StEG-Team hat die Ergebnisse auf verschiedenen Wegen in die Schulen und die Länderministerien zurückgemeldet und in die Öffentlichkeit getragen“, erklärte Natalie Fischer. „Wir haben Rückmeldeveranstaltungen mit den Schulleitungen organisiert, 250 Vorträge und drei Pressekonferenzen gehalten, 150 Publikationen veröffentlicht, und es gab mehr als 200 direkte Pressekontakte. Die Schulen und die 14 teilnehmenden Bundesländer erhielten nach jeder Erhebungswelle Rückmeldungen zu circa 30 Indikatoren in den Rubriken Ausgangsbedingungen, Prozessqualität und Ergebnisqualität. Bei der Prozessqualität ging es zum Beispiel um die Kooperationen zwischen Lehrkräften und dem weiteren pädagogisch tätigen Personal.“

Nutzung für Schulentwicklung und politische Entscheidungen

Die Schulen erhielten die Ergebnisse online, wobei diese ins Verhältnis zu den Ergebnissen anderer Ganztagsschulen im Lande gesetzt wurden. Die Resultate erläuterten die Forscherinnen und Forscher für die Schulleitungen mit Hilfe von Einordnungshilfen und resümierenden Einschätzungen. Bei den Länderrückmeldungen gab es – nach Primar- und Sekundarschulen getrennte – Vergleichsergebnisse mit den Bundesergebnissen und ein Fazit.

 

„Manche Schulen haben die Ergebnisse zur Evaluation ihrer Einrichtung genutzt und zur Qualitätsentwicklung in den schulischen Gremien vorgestellt. Einige Schulen werben mit den StEG-Ergebnissen auf ihren Homepages. Eine IGS meldete uns zum Beispiel zurück, dass sie ohne StEG den Änderungsbedarf nicht gesehen hätten. Insgesamt sind solche direkten Kontakte zu unserem Forschungsteam allerdings leider noch die Ausnahme“, erklärte Natalie Fischer. Die Länder hätten die Ergebnisse für politische Entscheidungen und Diskussionen eingesetzt. Nicht zuletzt nähmen nahezu alle Parteien Bezug auf StEG.

Es bleiben offene Fragen: „Was brauchen Schulen und Länder, um von den Rückmeldungen noch besser profitieren zu können? Wie können wir in der aktuellen Studie die Rückmeldeverfahren noch optimieren?“

Hessische Ganztagsschulstudie

Cornelia Lehr vom Hessischen Kultusministerium stellte „Die hessische Evaluationsstrategie“ vor. Seit 2010 fördert das Land die „Hessische Ganztagsschulstudie“ (HeGS). Eine Schulleitungsbefragung als Monitoring-Studie erfasst Daten zur Entwicklung der Ganztagsschulprofile, wie sie Hessen vorsieht, an den einzelnen Schulen. Seit 2010 läuft auch eine Intensiv-Studie mit der Befragung aller Personengruppen an einem Set von Ganztagsschulen, um die Umsetzung des „Qualitätsrahmens für die Profile ganztägig arbeitender Schulen“ zu beobachten und zu unterstützen.

Andrea Hopf von der Justus-Liebig-Universität Gießen berichtete zur Nutzung der Studienergebnisse: „Die globalen Daten verschaffen uns einen Überblick über den Status Quo der Hessischen Ganztagsschullandschaft, eine differenzierte Perspektive auf unterschiedliche Entwicklungen der unterschiedlichen Ganztagsformen und zeitbezogene Veränderungen. Es ist nun möglich, aktuelle Befunde auf der Basis langzeitlicher Entwicklungslinien besser einzuordnen und gleichzeitig dadurch überhaupt Effekte der globalen Steuerung auf die Ganztagsschulen nachweisen zu können.“

Cornelia Lehr berichtete von den Aktivitäten jenseits der Studie: „Seit Ende 2013 entwickeln wir entlang des Qualitätsrahmens auch Evaluierungsinstrumente zusammen mit Lehrkräften und Schulleitungen. Dazu fanden 20 Fortbildungstagungen zum Qualitätsrahmen in 2012 und 2013, eine Landesfachtag „Qualitätsrahmen“ und eine Auftakttagung für neue Ganztagsschulen statt. Es bildeten sich lokale und regionale Netzwerke, Fachberatungen an den Schulämtern sowie Profil- und Referenzschulen.“

Bildungsberichterstattung Ganztagsschule in Nordrhein-Westfalen

Das nordrhein-westfälische Schulministerium und das Familienministerium fördern von 2010 bis Ende 2014 die „Bildungsberichterstattung Ganztagsschule“ (BiGa NRW), die von Nicole Börner vom Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund vorgestellt wurde: „Es geht uns um die Darstellung von Basisinformationen, die Erfassung von Entwicklungstrends und die Analyse von Weiterentwicklungsbedarfen.“ Dazu führen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Online-Befragungen von Leitungskräften, Trägern, Lehrerinnen und Lehrern, Elternvertretern und Eltern durch.

Der Ergebnistransfer läuft hier über die Broschüre zum Bildungsbericht, Fachveranstaltungen und einen Internet-Auftritt. Für Schulleitungen und Träger existiert ein online-basiertes, datengeschütztes Rückmeldesystem, bei dem die Interessierten ausgewählte Fragestellungen, Zeitreihen, Vergleichsgruppen und Filtermöglichkeiten nutzen können. Außerdem hat NRW ein umfassendes Unterstützungssystem für die Qualitätsentwicklung der Ganztagsschulen. Eva Adelt vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW gab zum Schluss zu bedenken: „Die Wissenschaft kann nicht jede Einzelschule beraten. Und: Die Schulen werden evaluationsmüde – wir müssen ihnen auch einmal Zeit für die Entwicklung geben.“

In beiden Ländern können sich die Ganztagsschulen Unterstützung, durch die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ holen, wie sowohl Cornelia Lehr als auch Eva Adelt hervorhoben.

„Haben wir auf die richtigen Themen und Methoden gesetzt?“

Nach dem Forenteil des zweiten Tages brachte die Podiumsdiskussion „Was bedeutet gesellschaftliche Verantwortung im Kontext von Bildungsforschung?“ im Plenarsaal noch einmal alle beteiligten Ebenen zusammen: Für die Bildungsverwaltung sprach der Hessische Kultusminister Prof. Alexander Lorz. Für die Bildungsforschung resümierten Prof. Felicitas Thiel vom Arbeitsbereich Schulpädagogik der Freien Universität Berlin und Prof. Kai Cortina die Diskussionen auf der Tagung. Und auch die Schulpraxis war vertreten: Angelika Knies, Schulleiterin der 2013 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Anne-Frank-Schule Bargteheide, und Christian Stärk vom Landesschülerbeirat Baden-Württemberg warfen aus der Perspektive der täglichen Arbeit in Bildungseinrichtungen einen Blick auf den Bedarf an Forschungserkenntnissen. Noch einmal wurde deutlich, dass jeder Bereich eigene Anforderungen stellt – dass aber keiner ohne den anderen auskommt. „Verantwortung“ heißt demnach auch, der jeweils anderen Seite genau zuzuhören und letztlich die gemeinsamen Ziele zu erkennen, die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems zu stärken.

Am Schluss der Tagung freute sich Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung Berufliche Bildung, Lebenslanges Lernen im BMBF, darüber, dass „das Renommee der Bildungsforschung unglaublich gewachsen ist“ und kündigte an, dass das Rahmenprogramm zur Förderung der empirischen Bildungsforschung, wie von Anfang an vorgesehen, nun bald evaluiert werde: „Haben wir auf die richtigen Themen und Methoden gesetzt?“ Zudem werde das BMBF weiter den intensiven Dialog mit Wissenschaft und Praxis führen.

 

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