Wie gelingt individuelle Förderung? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Wie verstehen unterschiedliche pädagogische Professionen "individuelle Förderung"? Wie definieren sie "schwierige Kinder"? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Institut für soziale Arbeit und der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster wollen diese Fragen mit ihrer Studie klären.

Individuelle Förderung ist das zentrale Leitziel von Ganztagsschulen. Doch die wissenschaftliche Begleitung zur offenen Ganztagsschule in Nordrhein-Westfalen zeigt auch, dass diese an Lehrkräfte und pädagogische Partner hohe Anforderungen stellt. Die Handelnden beklagen fehlende Zeit, geringe Personalressourcen, mangelnde Qualifikation, fehlende Förderkonzepte und Kooperationsstrukturen. Darüber hinaus wünschen sich Pädagoginnen und Pädagogen Fortbildungen, um besonders mit so genannten "schwierigen Kindern" besser umgehen zu können.

Fotos: Stephan Maykus, Eva Stuckstätte und Timm Liesegang
Stephan Maykus, Eva Stuckstätte und Timm Liesegang (v.l.) stellen das Forschungsdesign vor.

Das Institut für soziale Arbeit (ISA) und das Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wollen die Praxis individueller Förderung in Kooperation von Schule und Sozialpädagogik untersuchen, um anschließend unter anderem auch Empfehlungen für die Realisierung integrierter Förderkonzepte zu geben. Zugleich soll die Studie einen Beitrag zur Grundlagenforschung liefern, denn so bedeutsam das Anliegen individueller Förderung ist - über die konkrete Förderpraxis in Schulen weiß man bisher noch wenig. Dabei sind eine Reihe von Fragen zu beantworten: Wie definieren die unterschiedlichen pädagogischen Professionen "schwierige Kinder"? Wie gehen sie mit diesen Schülerinnen und Schülern um? Welche Erfahrungen bestehen mit Diagnose und Förderplanung? Wie kooperieren Lehrerinnen und Lehrer mit außerschulischen Fachkräften?

Seit dem 1. März 2008 arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einer Studie zu Chancen und Problematiken besonderer erzieherischer Förderung in Ganztagsschulen  mit dem Titel "Individuelle Förderung in Ganztagsschulen - inwiefern gelingt sie bei Kindern in schwierigen Lebenssituationen?" Gefördert wird die Studie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds.

Im Frühjahr hat das Team um Dr. Stephan Maykus, Dr. Eva Stuckstätte und Dr. Dirk Nüsken vom ISA und Prof. Dr. Wolfgang Böttcher von der Wilhelms-Universität zunächst die Programme, Erlasse und Initiativen der Länder Bremen und Nordrhein-Westfalen, in denen die Studie erhoben wird, analysiert.

Jede Schule hat einen spezifischen Umgang mit Förderbedarf

Vor den Sommerferien wurden in beiden Ländern qualitative Interviews mit Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften aus vier Schulen zum Thema "Individuelle Förderung" befragt. Dann stellte man die Studie Bremer Schulen vor, um diese als Teilnehmer zu gewinnen. Es wurden zwei Grundschulen und elf weiterführende Schulen gefunden. Die Motivation der Schulen, daran teilzunehmen, beschrieb Christel Hempe-Wankerl von der Behörde für Bildung und Wissenschaft in Bremen: "Sie erhoffen sich, aus der Theorie Honig für die eigene Praxis zu saugen. Sie wollen die Papiere zur individuellen Förderung mit Leben füllen."

In Nordrhein-Westfalen schrieben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach den Sommerferien Ganztagsschulen an, um auch hier freiwillige Teilnehmer zu finden. An vier ausgewählten Schulen in Bremen und Nordrhein-Westfalen wurden im Juni und Juli in einer Vorstudie Expertengespräche mit Schulleitungen, Ganztagskoordinatoren sowie Lehr- und sozialpädagogischen Fachkräften geführt. Die Vorstudie sollte die organisationsrelevanten Charakteristika sowie die Rahmenbedingungen der individuellen Förderung ermitteln und bewerten.

Timm Liesegang von der Westfälischen Wilhelms-Universität fasst diese ersten Ergebnisse zusammen: "Jede Schule hat ihren spezifischen Umgang mit dem Phänomen des ,besonderen erzieherischen Förderbedarfs': Es gibt multiprofessionellen Unterricht, Sozialkompetenztrainings, Trainingsraumkonzepte, heilpädagogisches Voltigieren, Elternarbeit und sozialräumliche Vernetzung. Die Verzahnung der Professionen ist unterschiedlich ausgeprägt, wird aber durchweg als Bereicherung empfunden." Auch die Ganztagsschule finde breite Akzeptanz, es bleibe aber auch hier das Problem, dass unter den gegebenen Rahmenbedingungen - Zeit, Personalressourcen, Qualifikation, Förderkonzepte, Räume, im Aufbau befindliche Kooperationsstrukturen - individuelle Förderung vielfach erst am Anfang steht.

Ein heterogenes Bild zeige sich im Verständnis und in den Konzepten zur individuellen Förderung. Manche Pädagogen zählten bereits das Erlernen des richtigen Umgangs mit Messer und Gabel dazu. Auf Seiten der sozialpädagogischen Fachkräfte gibt es Liesegang zufolge keine Diagnoseinstrumente.

Wie geht man mit Konflikten um?

Dr. Eva Stuckstätte benennt die Themen, zu denen man sich Erkenntnisgewinn mit Hilfe der Hauptstudie verschaffen möchte: Multiprofessionelle Kooperationen, konzeptioneller und organisatorischer Rahmen der Ganztagsschule, besonderer erzieherischer Förderbedarf, individuelle Förderung sowie Professionsverständnis und professionelles Handeln.

Beim ersten Schwerpunkt "Multiprofessionelle Kooperationen" soll unter anderem geklärt werden, ob die unterschiedlichen pädagogischen Professionen in der Ganztagsschule Nutzen aus der Zusammenarbeit ziehen und sich Potenzial für eine gemeinsame Erarbeitung pädagogischer Konzepte ergibt. Im zweiten Feld "Rahmen der Ganztagsschule" soll gefragt werden, ob die im Vergleich zur Halbtagsschule größeren Spielräume bei Raum, Zeit und Professionen auch tatsächlich bessere Möglichkeiten zur individuellen Förderung ergeben. "Wo stehen fachliche Ansprüche der jeweiligen Profession in Konflikt mit der Organisation? Wie wird mit diesen Konflikten umgegangen? Um beschreiben zu können, welcher Anspruch an die Professionen in Schulen gestellt werden darf, muss dieser ins Verhältnis zu institutionellen Rahmenbedingungen gesetzt werden", erklärt Eva Stuckstätte.

Im dritten Feld "Besonderer erzieherischer Förderbedarf" lauten die Fragestellungen: "Wie erlangen die Professionellen Kenntnis über den Förderbedarf? Was sind Schlüsselsituationen, die Förderbedarf verdeutlichen?" Es soll untersucht werden, wie umfassend die Einblicke von Lehr- und Fachkräften  in die Lebenswelten ihrer Schülerinnen und Schüler sind. Welche Voraussetzungen müssen Schülerinnen und Schüler erfüllen, damit von besonderem erzieherischen Förderbedarf gesprochen werden kann? Wer entscheidet in der Schule, wer Unterstützung benötigt?

"Dabei ist eine unserer zentralen Annahmen", so Eva Stuckstätte, "dass die Bestimmung des erzieherischen Förderbedarfs in den Schulen eng an normativen Kategorien erfolgt und weniger anhand der Rekonstruktion von Fallstrukturen." AHDS, störende oder schlagende Kinder - sie werden schnell als "schwierig" eingestuft. "Wir sprechen in unserer Studie bewusst von Kindern in schwierigen Lebenssituationen", betont Stephan Maykus die veränderte Sichtweise, die auch den Hintergrund und die Geschichte der Schülerinnen und Schüler mit in den Blick nimmt, was multiprofessionellen Teams in der Ganztagsschule möglicherweise eher möglich ist als Lehrerinnen und Lehrern in der Halbtagsschule.

Das Forschungsdesign

Beim Thema "Individuelle Förderung" muss laut Eva Stuckstätte gefragt werden: "Wie erfolgt eine konkrete Ausgestaltung der Förderkonzepte? Wird die praktische Umsetzung der Konzepte den fachlichen Maximen der jeweiligen Professionen gerecht? Wo und wie werden Reflexionsinstrumente eingesetzt?" Und schließlich untersucht man bezüglich des "Professionellen Handelns", welche Handlungskonzeptionen die Professionen im Rahmen der Individuellen Förderung aufweisen und in welchem Verhältnis indirekte Handlungskompetenzen zu erforderlichen Kompetenzformen im Förderprozess stehen. Wann und wie fördert das professionelle Handeln autonomes Handeln der Klienten beziehungsweise stellt dieses wieder her? Die Wissenschaftlerin erhofft sich eine Konkretisierung des Verhältnisses zwischen Förderansprüchen und -bedarfen und den Handlungskompetenzen der Professionen.

Von September 2008 bis zum Juni 2009 sollen in der Hauptstudie an 70 Schulen in Bremen und Nordrhein-Westfalen 35 Lehrkräfte und 35 sozialpädagogische Fachkräfte zu ihrer Wahrnehmung und Praxis individueller Förderung befragt werden. Parallel wird Feldforschung mit Hilfe von teilnehmenden Beobachtungen und Videoanalyse betrieben.

Dieses Forschungsdesign stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem Workshop am 14. August 2008 im Luidgerhaus in Münster zur Diskussion. Wolfgang Böttcher bat rund 20 Kolleginnen und Kollegen aus Bildungsforschung und -administration um eine kritische Stellungnahme zum Design, um dieses - bevor es in die echte Praxisphase gehen würde - gegebenenfalls zu verbessern. "Der Blick von außen kann hilfreich sein, um Bedenken zu klären, die man selbst an einigen Stellen hat", erklärte Stephan Maykus zum Vorgehen, sich mit dem Entwurf der konstruktiven Kritik von Experten zu stellen.

Weniger Interviews, mehr Beobachtung?

Und diese machten rege Gebrauch von der Möglichkeit, ihre Bedenken zu äußern und Anregungen zu geben, sodass sich ein spannender Austausch entwickelte. Prof. Dr. Bernd Seidensticker, Sozialpädagoge von der FH Darmstadt, riet, sich nicht zu übernehmen, indem man zu viele Fragen auf einmal beantworten wolle. Heinz-Jürgen Stolz vom Deutschen Jugendinstitut empfahl den Forschern, sich der Frage, was die Professionen anleitet und wie sie Individuelle Förderung verstehen, eher indirekt zu nähern. So könnte man auch die von Eva Stuckstätte beklagten "recht allgemeinen Antworten" zum Thema "Individuelle Förderung" in der Vorstudie vermeiden.

Dr. Thomas Coelen von der Universität Siegen schien es nicht notwendig, 70 Interviews zu führen. Der Erziehungswissenschaftler riet stattdessen zu Tandeminterviews und mehr teilnehmenden Beobachtungen im Unterricht. Sehr gut fand Coelen die Idee, die Befragten mit konstruierten Beispielen eines Kindes mit Förderbedarf zu konfrontieren, um herauszufinden, wie sie sich dessen annehmen würden.

Eva Stuckstätte, Stephan Maykus und Wolfgang Böttcher dankten für die Anregungen und werden sie in die weitere Ausgestaltung der Studie einfließen lassen. Im Juli 2009 sollen die qualitativen Daten statistisch überprüft werden. Ende 2009 ist eine Abschlussveranstaltung vorgesehen. Der Abschlussbericht ist für Februar 2010 geplant.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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