Quo vadis Ganztagsschulforschung? : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Auf dem Symposium "Ganztagsschulforschung" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Berlin konnte eine ermutigende Zwischenbilanz der Begleitforschung zum IZBB gezogen werden.

Empirische Bildungsforschung ist die Grundlage, um die Wirksamkeit bildungspolitischer Maßnahmen beurteilen zu können. Das gilt auch und gerade für innovative Vorhaben wie den Auf- und Ausbau schulischer Ganztagsangebote, in den immerhin vier Milliarden Investitionsmittel des Bundes fließen. Mit Beginn des IZBB 2003 hatten sich Bund und Länder deshalb auch verständigt, das Ganztagsschulprogramm durch eine systematische Begleitforschung zu unterstützen.

Das erste Symposium "Ganztagsschulforschung" des BMBF versammelte sämtliche Protagonisten der gegenwärtigen Ganztagsschulforschung: Das Forschungskonsortium und Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen - StEG", die Projektleiter von sechs qualitativen Forschungsvorhaben und den wissenschaftlichen Nachwuchs sowie weitere renommierte Schulforscher, die die bisherige Forschung fachlich kommentierten.

Länderübergreifende Begleitforschung

Kornelia Haugg und Hans Konrad Koch
Kornelia Haugg und Hans Konrad Koch begrüßen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums

"Schaut man sich die Entwicklung der letzten Jahre an, wird deutlich, dass schulische Ganztagsangebote in allen Ländern zunehmen. Man darf sagen, dass der Bund daran nicht ganz unbeteiligt ist", bilanzierte Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung "Berufliche Bildung, lebenslanges Lernen" im BMBF in ihrer Begrüßungsrede. Sie verwies auf die eben veröffentlichten ersten StEG-Ergebnisse.* Bis 2009 würden erstmals substanzielle empirische Erkenntnisse über die Entwicklung von Ganztagsschulen vorliegen, die auch international von Bedeutung seien. "Durch die Einrichtung von Ganztagsschulen werden Strukturen modernisiert, mit dem Ziel, Lehr- und Lernprozesse so zu gestalten, dass individuelle Förderung besser gelingen kann." Für das Bundesministerium für Bildung und Forschung ist die Ganztagsschulforschung zugleich Teil der Maßnahmen zur Förderung einer leistungsfähigen und international konkurrenzfähigen empirischen Bildungsforschung in Deutschland.

Mit der Längsschnittstudie StEG wurde ein Konsortium beauftragt, dem das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), das Deutsche Jugend Institut (DJI) und das Institut für Schulentwicklungsforschung Dortmund (IFS) angehören. Auf StEG aufbauend, hat das BMBF seit Ende 2005 weitere, qualitativ orientierte Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. Damit soll ein breites wissenschaftliches Spektrum der Forschung gewährleistet werden.

Ziel der Begleitforschung sei es, so der langjährige Leiter der Unterabteilung "Lebenslanges Lernen, Bildungsforschung, Weiterbildung" im BMBF, Hans Konrad Koch, verschiedene Effekte der Ganztagsschulentwicklung zu untersuchen: "Struktureffekte" für die Gestaltung der Lern- und Lehrkultur, "Adressateneffekte" für Schüler und Eltern sowie "Akteurseffekte", das heißt Auswirkungen auf die Professionalität der Schulleitungen, der Lehrkräfte, des pädagogischen Personals und der außerschulische Partner. Mit Blick auf das StEG-Logo bilanzierte er: "Die Ganztagsschulforschung ist auch ein Brückenbauen zwischen Wissenschaft und Praxis, Bund und Ländern."

"Wann ist eine Ganztagsschule eine Ganztagsschule?"

Die steigenden Zahlen sprechen für sich. Dennoch stellt sich die Frage, die Praktiker und Theoretiker gleichermaßen bewegt: "Ab wann ist eine Ganztagsschule eine Ganztagsschule?" Für viele Ganztagsschulprotagonisten ist sie, so Prof. Eckhard Klieme, Leiter des StEG-Konsortiums, programmatisch "ein Lern- und Lebensort, der die ganze Persönlichkeit stärkt". Von der Ganztagsschule werde viel, vielleicht auch zu viel erwartet, insbesondere dass die Ganztagsschule eine erzieherische Institution werde, statt nur inhaltlich-fachliche Angebote zu machen. Es sei eine schultheoretisch höchst interessante Frage, inwiefern schulische Ganztagsangebote das tradierte Bild von Schule grundsätzlich veränderten.

Die Veröffentlichung der ersten StEG-Erhebungen bietet unter anderem wertvolle Informationen über die soziale Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler. "Nach Sozialstatus und Migrationshintergrund unterscheiden sich am Ganztag teilnehmende Schüler nicht von jenen, die nicht am Ganztagsbetrieb teilnehmen, Ganztagsangebote erreichen somit Kinder und Jugendliche aus verschiedenen sozialen Kontexten", erläuterte Dr. Ludwig Stecher, Koordinator des StEG-Konsortiums vom DIPF. Eine allgemeine Erhöhung der Teilnahmequoten würde allen sozialen Gruppen zugute kommen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sei ein höherer Lernnutzen gegeben, wenn die Intensität des Ganztagsschulbesuches zunehme. "Es kommt auf die Dosis an: Der pädagogische Effekt beginnt ab einem Ganztagsschulbesuch von vier Wochentagen."

Eines der Schlüsselergebnisse der Studie stellte Prof. Dr. Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut vor: Auch die Eltern profitieren durch Ganztagsangebote. "Der Aufbau ganztägiger Betreuung führt zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie." Darüber hinaus würden die Ganztagsschulen die Eltern bei der Hausaufgabenbetreuung deutlich entlasten, aber auch in Erziehungsaufgaben unterstützen.

Entwicklungsbedarf: Unterrichtsentwicklung

Eine bemerkenswerte Angebotsbreite auf sportlichen, musischen und künstlerischem Gebiet stellte Prof. Heinz-Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung fest. Ein positives Bild vermittelten insbesondere fächerübergreifende Angebote. Dennoch gibt es für den Erziehungswissenschaftler auch ernsthafte Fragen, denn ein Teil der befragten Ganztagsschulen bietet nach eigener Auskunft überhaupt keine Förderung an: "Das ist ein problematisches Ergebnis, hier gibt es Entwicklungsbedarf", so Holtappels. Verbesserungsbedarf sah er darüber hinaus im Kernbereich der Schule - der Unterrichtsentwicklung.

Dass Schule mehr leisten muss, als nur den täglichen Lernbetrieb aufrecht zu erhalten, betonte Prof. Horst Weishaupt von der Bergischen Universität Wuppertal in seinem Kommentar zu den StEG-Ergebnissen. Er verwies auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im vergangenen Jahr, nach der der staatliche Erziehungsauftrag sich ausdrücklich "nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit" richte, sondern "auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben".

Bezogen auf die Ganztagsschulentwicklung gab er zu bedenken, ob die "Patchwork-Schule" mit einem bunten Strauß von Nachmittagsangeboten ein Schritt in die richtige Richtung sei.

Lernkultur und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen

Die sechs weiteren Forschungsprojekte, die sich auf dem Symposium präsentierten, verbindet, dass sie in vertiefter Weise die Entwicklungsprozesse an Ganztagsschulen untersuchen. Prof. Sabine Reh von der Technischen Universität Berlin und Prof. Fritz-Ulrich Kolbe von der Johann-Gutenberg-Universität Mainz rekonstruieren  die "Lernkultur und Unterrichtsentwicklung". Interviews, teilnehmende Beobachtung und Videoaufzeichnungen von Unterricht und Förderangeboten an IZBB-geförderten Ganztagsschulen in Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz ermöglichen ein fundiertes empirisches Verstehen der Ganztagsschulentwicklung.

Welche strukturellen Bedingungen fördern oder hemmen eine bewegungsorientierte Schule? Diese Frage sucht die "Studie zur Entwicklung von Bewegung, Spiel und Sport in der Ganztagsschule" zu beantworten. "Im Mittelpunkt unseres Forschungszugangs steht das Schulporträt", so Prof. Ralf Laging von der Philipps-Universität Marburg. Es sei eine Momentaufnahme einer Schule aus einer bestimmten Perspektive und beschreibe Gelingensbedingungen, die nachvollziehbar machen, wie Bewegung, Spiel und Sport die Schulen verändern. Eine Verzahnung von Unterricht und Bewegung oder Unterrichtsprojekte zum bewegten Lernen sollen in Einzelfallstudien mittels Gruppendiskussionen und Dokumentenanalysen aufgearbeitet werden.

Eine "Studie im Konjunktiv" stellte Prof. Andreas Lehmann-Wermser von der Universität Bremen vor - denn sein Projekt zur musisch-kulturellen Bildung ist erst am im Mai 2007 gestartet: "Wir wissen noch gar nicht, welche Inhalte im Unterricht vermittelt werden." Die Studie betritt Forschungsneuland. Um Strukturdaten über den Musikunterricht und die Angebote der Kooperationspartner zu generieren, werden 240 Schulen aller Schulformen in den Ländern Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Saarland sowie ihre Kooperationspartner befragt. Die sich anschließende qualitative Erhebung soll Schulen mit einem besonders innovativen Profil herausfiltern.

Abbau von Bildungsbenachteiligung

Das Projekt "Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe", das Dr. Hans-Jürgen Stolz vom Deutschen Jugendinstitut leitet, ist in vielfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen wird sich der 4. Ganztagsschulkongress im September 2007 um dieses Thema drehen. Zum anderen ist das Thema auch mit dem "Innovationskreis Weiterbildung" des BMBF verbunden, es hat also Relevanz über die Ganztagsschulen hinaus. Hans-Jürgen Stolz hat vier Modellregionen lokaler Bildungslandschaften identifiziert, bei denen der Abbau herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung auf der bildungspolitischen Agenda steht. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind praxisrelevant: Es sollen Lokalprofile erstellt, Vertragsabschlüsse mit den Modellregionen vereinbart und Konzepte lokaler Bildungsplanung vorangetrieben werden.

Den Lernerfolg in der Grundschule vor dem Hintergrund von Ganztagsorganisation und neu gestalteter Schuleingangsphase in den Ländern Berlin, NRW und Brandenburg untersuchen Prof. Hans Merkens und Nicole Bellin von der Freien Universität Berlin. Im Fokus steht die Lernentwicklung von Kindern mit Sprachrückständen: Welche Form der Ganztagsorganisation bietet Kindern mit Migrationshintergrund und aus sozial schwachen Familien eine optimale Lernumgebung? Welchen Beitrag am Lernerfolg können die veränderten Strukturbedingungen bei Berücksichtigung von Prozessmerkmalen des Unterrichts leisten? Je länger ein Kind in einer Kita und Ganztagsschule betreut wird, desto höher der Sprachstand, so die Annahme Merkens.

Ein viel versprechendes Forschungsprojekt stellten zum Abschluss des Symposiums Prof. Sabine Andresen und Prof. Hans-Uwe Otto von der Universität Bielefeld vor: "Die Familie als Akteurin in ganztätigen Bildungssettings". Qualitative Erhebungen in Bremen, Niedersachsen, NRW und Thüringen an jeweils zwei Ganztagsgrundschulen sollen an den Schnittstellen zwischen Schule, außerschulischen Partnern und familiärer Welt die Bedeutung der Familie für die gesellschaftliche Reproduktion und als Bildungsort erfassen.

Unterstützung durch und für die Länder

Unter den Gästen des Symposiums waren auch viele für den Ganztag verantwortliche Vertreter der Kultus- bzw. Bildungsverwaltungen der Länder. Sie unterstützen die Durchführung der Forschungsprojekte in ihren Ländern und verfolgten daher die Präsentationen mit großer Aufmerksamkeit. Den großen Stellenwert der gegenwärtigen, durch das IZBB geförderten Ganztagsschulforschung unterstrich Wolf Schwarz, Referatsleiter im Hessischen Kultusministerium: "Das sind Anstöße für die Bildungsverwaltung, geben Sie weiter solche Hinweise!"

Welche Dynamik die IZBB-Begleitforschung entwickelt, bilanzierte am Ende eines langen Tages dann Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen": "Man muss sich gedanklich sechs Jahre zurückversetzen: Heute gibt es rund 6.000 neue Ganztagsschulen in Deutschland und eine umfangreiche Ganztagsschulforschung. Wer das damals vorhergesagt hätte, wäre kaum ernst genommen worden."

Er dankte dem BMBF für das Engagement bei der Förderung der Bildungsforschung und dabei ganz besonders Ministerialdirigent Hans Konrad Koch, dem gerade die Ganztagsschulforschung wesentlich ihren derzeitigen Qualitätsstand verdankt.

Eine mit den Ländern abgestimmte und Anfang 2007 durch das BMBF ausgeschriebene Förderbekanntmachung wird die Ganztagsschulforschung bis 2009 in vier wichtigen Themenbereichen verstärken: Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe, Individuelle Förderung durch Ganztagsangebote, Ganztagsschule und Familie sowie Professionalisierung des Personals.

* Holtappels/Klieme/Rauschenbach/Stecher (Hrsg.): Ganztagsschule in Deutschland. Weinheim und München: Juventa 2007

Kategorien: Forschung

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