LUGS: Vom Lernen und Lehren in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Auf einem Abschluss-Workshop am 25. September 2009 in der TU Berlin wurden die Ergebnisse des Forschungsprojektes "LUGS - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen" vorgestellt.

Ein ganzes Forschungsprogramm zum Thema Ganztagsschule hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in den vergangenen Jahren initiiert und finanziert. Nach und nach beenden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschungen und präsentieren die Ergebnisse der Öffentlichkeit.

Das LUGS-Forschungsteam
Das LUGS-Forschungsteam in der Technischen Universität Berlin mit den Projektleitern Prof. Sabine Reh (6.v.r.) und Prof. Fritz-Ulrich Kolbe (3.v.r.).

Am 25. September 2009 war es für das Projekt "LUGS - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen" so weit. Das Team um Prof. Dr. Sabine Reh von der Technischen Universität Berlin und Prof. Dr. Fritz-Ulrich Kolbe von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz lud zu einem Abschluss-Workshop in die TU Berlin. Präsentiert wurden die Ergebnisse aus dem Projekt hauptsächlich den Schulleitungen und Ganztags-Steuergruppen der je vier rheinland-pfälzischen, brandenburgischen und Berliner Forschungsschulen, die sich seit 2006 in die Karten ihrer Lernkultur und Ganztagsentwicklung gucken ließen, von den Wissenschaftlern begleitet, teilnehmend beobachtet und befragt worden sind.

Genügend Material ist zusammengekommen, wie bereits ein Kurzfilm zur Einstimmung in den Workshop demonstrierte. In ihm sind Szenen aus verschiedenen Bereichen der individuellen Förderung wie der Hausaufgabenbetreuung, aber auch vom Mittagessen montiert worden. "Eine Hommage an die beteiligten Schulen", wie es Sabine Reh formulierte. Fritz-Ulrich Kolbe dankte den Anwesenden dafür, "dass wir Ihre Arbeit anschauen durften. Das ist nicht selbstverständlich".

Die Leitfrage, unter der die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Praxis in den Schulen untersuchten, lautete, ob und wenn ja wie durch die Umstellung von Schulen auf den Ganztagsbetrieb das Lernen und Lehren verändert wird. Ziel der Prozessforschung war es, Ge- und Misslingensbedingungen für die Entwicklung und pädagogische Praxis der Ganztagsangebote zu bestimmen.

Schulkultur und "Sinnkonstruktionen" entscheidend für den Umgestaltungsprozess

Zu Beginn des Projektes hatten sich die Teams ein Bild von der Entwicklungsarbeit im Ganztagsbereich verschafft. In den ersten Projektmonaten waren sie in den Steuerungs- und Koordinationsgruppen vertreten, die sich mit der Entwicklung des Ganztagsangebotes beschäftigen. Darüber hinaus führten sie Tiefeninterviews mit den Schulleitern, Lehrern und Erziehern. Anschließend wählten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Unterrichtsangebote, Förder- und Hausaufgabenangebote sowie spezielle Lernangebote im Rahmen des Ganztags aus. Per Video wurden diese dokumentiert und anschließend analysiert. Durchgeführt wurden außerdem Interviews mit den Schülerinnen und Schülern, um deren Perspektive zu erfassen, und mit den Lehrerinnen und Lehrern, welche die Angebote planen, anbieten und auswerten.

Welche Erkenntnisse konnten die Projektteams gewinnen? Deutlich wurden die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Ganztagsschulen arbeiten. Eine Gemeinsamkeit sah Sabine Reh in ihrem Eröffnungsvortrag aber in den Geschichten der Schulen, die jeweils einen Prozess mehr oder weniger großer Umgestaltung präfigurierten. Explizite wie implizite Vorstellungen der Schulleitungen und Lehrkräfte bestimmten die Ganztagsschulentwicklung aber entscheidend, wie sich durch die Gespräche mit den Akteuren und die teilnehmende Beobachtung rekonstruieren ließ. Neben der Geschichte der Schule und ihrer Lernkultur, der schulformspezifischen Bedingungen und den "Sinnkonstruktionen" der Akteure sorgten auch die Raumsituation, die Dynamik in einem Kollegium und die Kooperationsstrukturen für die spezifischen Vorgaben etwa von individuellen Lernzeiten und Arbeitsstunden.

"Die Mutter übernimmt die Leseförderung, die Lehrerin räumt auf"

Die Erziehungswissenschaftlerin benannte zwei Problemlagen, die ein Umsteuern auf Schulebene erforderten: Da ist zum einen die Wahrnehmung von Disziplinierungs- und Disziplindefizite in den pädagogischen Angeboten. Begünstigt würden diese durch ein "kompensatorisches Verständnis von Ganztagsschule", bei dem die Ganztagsschule als Auffangbecken für die vermeintlich schwierigen Kinder oder als Kompensation mangelnder Erziehung im Elternhaus gesehen werde. Es unterstellt eine Bedürftigkeit der Schüler, die zum Arbeiten angehalten werden müssten. Aber auch pädagogisch eher offene bildungspolitische Vorgaben, eine schulspezifische Lernkultur mit geringen individualisierten Praktiken und die Entscheidung für eine Hausaufgabenbetreuung ohne Fachkräfte wirken sich nachteilig aus.

Sabine Reh gab zu bedenken, dass die Angebote von den Schülerinnen und Schülern eher als "Potenzierung der Zugriffsmöglichkeiten durch die Schule" wahr genommen werden könnten. "Dabei sollen die Angebote doch gerade die Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen fördern." Die Diskussionen über diese Fragen könnten wiederum zu "härteren Auseinandersetzungen zwischen den Professionen" führen. Problematisch seien "Entfachlichungstendenzen": "Spitz gesagt: Da liest die Mutter den Kindern vor, während die Lehrerin den Klassenraum aufräumt."

Das zweite Problem zeige sich im "Ringen um professionelle Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereiche" in der Schule und zwischen den Professionen. Diese Herausforderung entstehe durch bildungspolitische Vorgaben eines reformpädagogischen Angebots; mit der Forderung nach dem "Ganztag als vielfältig nutzbarer Lebensraum", aber auch dem Anspruch der Individualisierung der Lernkultur. Die Entwicklung von Angeboten, die einen hohen Personaleinsatz und die Mitarbeit vieler Pädagogen erfordern, führe wiederum zu einem erhöhten Abstimmungsbedarf.

Individualisierung ohne Unterstützung führt zu Demotivation

"Ganztagsschulen, die auf offene Lernformen setzen, können auch Widersprüche heraufbeschwören, denn eine Individualisierung ohne pädagogische Unterstützung erschwert das Lernen und kann sogar Demotivation heraufbeschwören", formulierte Fritz-Ulrich Kolbe die Crux. "Die individualisierten Lernformen sind ein noch unerforschtes Gebiet."

Aus den Unterrichtsbeobachtungen ließen sich unterschiedliche Vorgehensweisen schließen, die der Mainzer Erziehungswissenschaftler gegeneinander abgrenzte. Ein individualisierender Unterricht bedürfe eines erhöhten Strukturierungsbedarfs, während ein standardisierter, dessen Erfolg indes fraglich sei, verstärkt mit Disziplinierungen arbeiten müsse. Wolle man die Schülerinnen und Schüler selbstständig arbeiten lassen, funktioniere dies nur bei vorhandenen Ansprechpartnern und einem stützenden Arrangement. Würden die Kinder und Jugendlichen in einem Angebot nur als Unterstützungsbedürftige angesprochen, erführen sich die Schülerinnen und Schüler jedoch wiederum nur als "Bedürftige", nicht aber als kompetente Lerner.

Außerunterrichtliche Angebote würden teilweise stark pädagogisiert. Bei einer Instrumentalisierung außerschulischer Praktiken bestehe aber die Gefahr neuer Defizitzuschreibungen: Schülerinnen und Schüler würden nun eigene Stärken oder Defizite nicht mehr nur in unterrichtlichen, sondern auch in außerunterrichtlichen Zusammenhängen erleben. Im anderen Extremfall könne jedoch bei kaum pädagogisierten Angeboten das Sachthema mangels Vorstrukturierung beliebig sein und damit Chancen für Lernerfahrungen ungenutzt bleiben.

Offene Lernformen und ihre zwei Seiten

Die beiden Projektleiter fassten ihre Ergebnisse in zwei Thesen zusammen: Für Ganztagsangebote sei es spezifisch, dass die Gestaltungstendenz zur Verwendung offener Lernformen verstärkt werde. Offene Lernformen besäßen aber eine eigene Ambivalenz - sie unterstützten und förderten nicht nur, sondern brächten auch neue Unterschiede hervor.

Im Anschluss präsentierten die Projektmitglieder - überwiegend junge Nachwuchswissenschaftlerinnen - ihre gesammelten Erkenntnisse über Einzelaspekte. So berichteten Jessica Dzengel-Barber und Doreen Weide über "Zeitstrukturen und Räume an Ganztagsschulen". Eine rhythmisierte Ganztagschule erfordere mehr Räume, aber auch ein höheres Maß der Selbstdisziplinierung auf Schülerseite und ein höheres Maß der Kooperation zwischen den Professionen. "Eine Öffnung von Unterricht und Schule allein garantiert noch keinen gleichberechtigten Zugang zu Bildungschancen", resümierten die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen. "Leistungsstarke Schüler nehmen neue Räume selbstbewusst wahr, schwächere Schüler werden da schon einmal untergebuttert", hatten sie beobachtet.

"Zwischen Wohlfühl-Gemeinschaft und Erziehungssituation" verorteten Angelika Krause und Anna Schütz das "Mittagessen in Ganztagsschulen". Dieses sei mit vielen Erwartungen und Anforderungen konfrontiert, werde vielleicht sogar mit diesen überfrachtet. Es gelte, sich folgende Fragen bewusst zu machen, bevor man ein Mittagessen plane: Soll das Mittagessen im Sinne einer Freizeit und Entspannungszeit oder eher zum Zweck einer unterrichtsähnlichen, strukturierten Lern- und Erziehungssituation gestaltet sein? Sollen die Klassengemeinschaften gestärkt oder eher erweiterte, jahrgangsübergreifende Peer-Kontakte ermöglicht werden? Wie viel Raum und Zeit wird geboten: Zum einen für das Essen selbst, zum anderen, um sich frei bewegen und in Kontakt mit anderen treten zu können? Welche Rolle spielt die Mahlzeit an sich?

Schüler als "hilfsbedürftig, aber kompetent" wahrnehmen

Dem Thema "Hausaufgaben und Förderangebote" widmeten sich Kerstin Rabenstein, Evelyn Lahr und Till-Sebastian Idel. "Die Erledigung der Hausaufgaben ist eines der wichtigsten Argumente für die Eltern, wenn sie ihre Kinder in der Ganztagsschule anmelden", betonte Kerstin Rabenstein. An allen besuchten Schulen seien Förderangebote stark ausgebaut worden. Dies führe jedoch noch nicht zwangsläufig zur individuellen Förderung. Die Unklarheit, ob und wie den einzelnen Schülerinnen und Schülern Hilfe unterbreitet werden soll, spiegele sich im großen Spektrum der Hilfsangebote.

"Diskutiert wird über die Anwesenheit von Pädagogen in der Hausaufgabenbetreuung. Es bedarf eines wirklichen Ansprechpartners, um die Qualität und die Nachfrage zu erhöhen", so die Erziehungswissenschaftlerin. Während manche Lehrpersonen während der Hausaufgabenbetreuung am Pult Zeitung lesen, gingen andere durch die Reihen und zeigten "Gesten der Ermunterung und der Fürsorglichkeit".

Für die Förderangebote insgesamt konstatierte Idel eine positive Wirkung auf die Schülerinnen und Schüler. Es gebe aber auch neuralgische Punkte, etwa eine diffuse Aufgabenstruktur oder eine diffuse Rahmung zwischen Gruppen- und Einzelarbeit. Das "selbstständige Arbeiten" der Schülerinnen und Schüler komme nicht selten nur einem Abarbeiten und Erledigen von Aufgaben gleich. Die Lehrkräfte müssten ihre Kompetenzen in Fördersituationen weiterentwickeln: Dem Schüler sollte eine verlässliche Aufmerksamkeit geschenkt werden bei gleichzeitiger professioneller Distanz. Das Denken des Schülers müsse aktiviert, der Schüler als "hilfsbedürftig, aber kompetent" wahrgenommen werden.

Chance für Entwicklung und Anerkennung pädagogischer Professionen

Dass sich auch die "Offenen Angebote" immer entsprechend der Lernkultur der einzelnen Schule ausprägen, bestätigten Isabel Neto Carvalho und Dr. Nils Köbel. Ganztagsschulen stünden vor dem Spagat, mit offenen Angeboten die Kinder und Jugendlichen am Schulleben partizipieren zu lassen und damit auf veränderte Bedingungen der modernen Gesellschaft zu reagieren - nicht aber in einem sozialtechnologischen Verständnis "Lernsubjekte" für eine ökonomisierte Wissensgesellschaft zu kultivieren. Offene Angebote besäße ein Potential für die Ganztagsschulentwicklung, wenn sie vor dem Hintergrund der bestehenden Lernkultur reflektiert würden. "Nicht nur die Inhalte sind entscheidend, sondern der jeweilige Umgang mit ihnen", folgerten die Projektmitglieder.

Schließlich berichteten Anne Breuer und Julia Steinwand über "Praktiken und Strukturen von Kooperationen an Ganztagsschulen", zum einen Lehrer-Lehrer-Kooperationen, zum anderen die Kooperation zwischen unterschiedlichen Professionen. In den Sekundar- und Oberschulen gebe es fast überall Steuergruppen. In vielen Steuergruppen würden jedoch hauptsächlich organisatorische Fragen behandelt. Die eigene Praxis werde zwar thematisiert, aber kaum reflektiert. Ursachen dafür vermuten Breuer und Steinwand in einer konzeptionellen Unbestimmtheit sowie in unbestimmten Entscheidungsbefugnissen für die Akteure.

In vielen Schulen gebe es neben den Steuergruppen "unterrichtsnahe" Teams, die meist aus einer Lehrerin und einer Erzieherin gebildet würden. Aus dem Anspruch der Kooperation auf Augenhöhe erwachse oft die Tendenz, die Unterschiedlichkeit zwischen den Professionen aufzuheben und eine Angleichung der Aufgaben und Rollen anzustreben. Demgegenüber sehen Anne Breuer und Julia Steinwand die Ganztagsschulentwicklung gerade "als Möglichkeit, das Prinzip der Differenzierung verschiedener Professionen voranzutreiben, um die Unterschiedlichkeit anzuerkennen und als solche zu bearbeiten".

Ein Schulleiter erklärte zum Schluss des Workshops, er werde Anregungen mitnehmen und die Praxis in der eigenen Schule noch mal auf den Prüfstand stellen. In den Schulen gebe es "respektable Entwicklungen, die weiterer Unterstützung von außen bedürfen", fasste Fritz-Ulrich Kolbe die Erkenntnisse zusammen. "Ich bin überzeugt, dass die Lösungen nur lokal und entsprechend den spezifischen Bedingungen einer Schule gefunden werden können."

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