Kirchliche Jugendarbeit im Ganztag: „Nicht gehobenes Potenzial“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Nicht nur katholische Jugendverbände sehen sich in Ganztagsschulen oft Stolpersteinen gegenüber, die mit den „Systemlogiken“ von Jugendarbeit und Schule zu tun haben. Eine Buchbesprechung.
Die defizitäre Forschungslage war die Motivation zu dem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt „kajuga“ über „Kirchliche Jugendarbeit in der Ganztagsschule“.
Die Professorinnen Claudia Gärtner und Judith Könemann, Religionspädagoginnen an der Technischen Universität Dortmund bzw. der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hatten insbesondere das „Forschungsdefizit einer dezidiert religionspädagogischen Reflexion des Ganztagsschulausbaus“ wahrgenommen (Einleitung). Konkret weisen sie darauf hin, dass die religiösen oder kirchlichen Akteurinnen und Akteure in den vielen Studien zum Ganztag bislang kaum als Kooperationspartner explizit in den Blick genommen worden sind. Mit ihrer qualitativen Fallstudie sind Claudia Gärtner und Judith Könemann der Kooperation von kirchlicher Jugendarbeit und Ganztagsschulen und deren Wirkungen nachgegangen.
Kirche und Ganztagsschule: veränderte Wahrnehmungen
Ein interessanter Ansatz. Schließlich hat, so die Autorinnen, auch die Religionspädagogik selbst die Veränderung von Schulen hin zu Ganztagsschulen bisher kaum wissenschaftlich reflektiert, obwohl die Ausweitung der Schulzeit durchaus Einfluss auf religiöse Bildungsprozesse habe. Möglicherweise liegt dies in der Tatsache begründet, dass beispielsweise die Deutsche Bischofskonferenz dem Ausbau des schulischen Ganztags zunächst insgesamt eher verhalten gegenüberstand, insbesondere der verpflichtenden Teilnahme am Ganztag bei gebundenen Ganztagsschulen.
Andererseits sind 60 Prozent der Schulen in katholischer Trägerschaft selbst gebundene Ganztagsschulen. In neueren Veröffentlichungen und in der Praxis der religionspädagogischen Arbeit erkennen die Einrichtungen der Kirchen längst auch deren Potenziale für pastorale Angebote und werben für eine Zusammenarbeit von kirchlichen Trägern der Jugendarbeit und Ganztagsschulen.
Die skizzierte Leerstelle der Forschung bezüglich einer religionspädagogischen Perspektive auf die Kooperationen zwischen kirchlicher Jugendarbeit und Ganztagsschulen steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Sie sollte mit dem Forschungsprojekt erstmals gefüllt werden.
Wirkungen der Jugendarbeit
Um es kurz zu machen: An solchen Kooperationen mangelt es noch. Das räumen die Autorinnen auch selbst ein – und man spürt zwischen den Zeilen das Bedauern darüber. Insgesamt waren religiöse Themen sowie explizit religiöse Angebote in den Kooperationen kaum zu beobachten. Für Claudia Gärtner und Judith Könemann wurde „deutlich, dass es (…) kaum Verbindungen zur Schulpastoral gab (…). In der Regel wird an kirchlichen Schulen eine eher vage verstandene christliche Werteorientierung als gemeinsame Grundlage von Ganztagsschule und Jugendverband angenommen, oder christliche Bezüge kamen durch das Selbstverständnis des jeweiligen Einzelverbandes, wie zum Beispiel der Malteser, zum Ausdruck (S. 271).
Die Studie ist zugleich deshalb interessant, weil die Ergebnisse auch das aufzeigen: Leerstellen betreffen nicht nur das Thema kirchliche Jugendarbeit im Ganztag, sondern ganz grundsätzlich die Wirkungen von Jugendarbeit an Ganztagsschulen. Die Autorinnen beobachteten: „Ein wichtiges Desiderat, wenn es um kirchliche Jugendarbeit geht, ist, dass es kaum empirische Studien zu den Wirkungen von Jugendarbeit gibt.“ (S.270)
Wie können solche Wirkungen untersucht werden? Als eine Möglichkeit erwies sich für die beiden Forscherinnen, Schülerinnen und Schüler sowie die für die Angebote Verantwortlichen zu befragen. „(...) dabei war aber immer bewusst, dass dies vor allem vermittelte Einschätzungen über die Wirkungen sind. Das macht aber auch deutlich, wie wichtig eine umfassende, auch quantifizierende Studie zu den (Aus-)Wirkungen kirchlicher Jugendarbeit mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklung politischen Bewusstseins, aber auch konkrete Kompetenzen wie soziale Kompetenz, Selbstorganisationskompetenz, zivilgesellschaftliche Handlungskompetenz bis zur Demokratiefähigkeit wäre“ (S. 270).
Fallstudien in Osnabrück und Paderborn
An der Fallstudie waren als Partner aus der Praxis der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) des Bistums Osnabrück und der BDKJ des Erzbistums Paderborn beteiligt, die sich, so die Autorinnen, in ihren Kooperationsprojekten mit Schulen sehr stark voneinander unterscheiden. Insgesamt wurden Kooperationsprojekte an drei Paderborner und vier Osnabrücker Schulstandorten untersucht, analysiert und deren Chancen und Herausforderungen in den Blick genommen.
Dabei betrachteten Claudia Gärtner und Judith Könemann ausdrücklich auch die Gemeinsamkeiten von kirchlicher Jugendverbandsarbeit und Ganztagsschulkonzepten und befassten sich dezidiert mit der Verwirklichung von Bildungsidee und Bildungsgehalt. Ausgehend von den im BDKJ formulierten Zielen der Jugendarbeit halten die Autorinnen fest: „Von den hier benannten Zielen finden sich vor allem die Förderung der Persönlichkeit und der sozialen Entwicklung, das Lernen von Verantwortung und – etwas weitergedacht – die Befähigung zur (Mit-) Gestaltung der Gesellschaft in den Zielformulierungen“ der verantwortlichen Akteurinnen und Akteure – und zwar sowohl seitens der Schulen als auch der Jugendarbeit (S. 224).
Persönlichkeitsentwicklung, soziales Lernen und Verantwortungsübernahme seien die am häufigsten genannten Ziele, die beide Seiten mit der Kooperation anstreben, und in diesen Zielen trifft sich die kirchliche Jugendarbeit mit den Erwartungen, die auch die befragten Ganztagsschulen für ihre Schülerinnen und Schüler festhalten.
Wichtige Schnittmengen, zu wenig Augenhöhe
Es gibt also hinreichende Schnittmengen in wichtigen, die Persönlichkeitsentwicklung und das demokratische Miteinander betreffenden Bereichen. Die Autorinnen kommen jedoch zu der eher ernüchternden Einschätzung, dass es noch wenig Kooperation auf Augenhöhe gibt. Anders formuliert: Die Anpassungsleistung der Jugendarbeit an Schule ist hoch. Die Angebote der Jugendarbeit seien in den Schulen „eine zwar sehr willkommene und bereichernde, aber eben doch nur eine Ergänzung“, sie würden keineswegs als „konstitutiv“ für das schulische System angesehen“ (S. 250).
Nur kurz sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Veröffentlichung der Studienergebnisse auf ihren knapp 300 Seiten sowohl einen pointierten Blick auf die Forschungslage zum Ganztag wirft als auch sehr genau und ausführlich beschreibt, was Jugendverbandsarbeit kennzeichnet und wo diese mit ihrem Selbstverständnis der Schulstruktur eher diametral entgegenläuft, nämlich hinsichtlich der Prinzipien Freiwilligkeit, Partizipation und Ehrenamtlichkeit.
„Konstitutive Machtarmut“
Ein Fazit der Studie lautet deshalb: „So bleibt insgesamt hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen den Systemen Jugendarbeit und Schule der Eindruck, dass diese vielfach gut und gewinnbringend ist, die Schulen letztlich aber mehr vom Engagement der Jugendarbeit in der Schule profitieren als umgekehrt (...)“. Auch die Hoffnung, mit der Kooperation junge Menschen für die kirchliche Jugendarbeit zu interessieren und Mitglieder für die Jugendverbände zu gewinnen, erfüllt sich nicht ohne Weiteres (S. 251).
Zu den Chancen von Jugendverbandsarbeit im System Schule führen sie unter anderem eine Erkenntnis des Erziehungswissenschaftlers und Sozialpädagogen Benedikt Sturzenhecker an, der von der „konstitutiven Machtarmut“ der Jugendarbeit gegenüber dem „machtvollen System Schule“ gesprochen hat, die „weder auf verpflichtete Teilnahme noch auf die Verleihung formaler, für die Bildungsbiografie notwendiger Zertifikate rekurrieren kann“ (S. 246).
Resümierend bleibt zu sagen, dass die Studie von Claudia Gärtner und Judith Könemann recht genau das Dilemma zwischen den unterschiedlichen Systemlogiken von Jugendverbandsarbeit und Schule offenlegt. Die Autorinnen haben sich gründlich mit den Ansprüchen und Erwartungen an den Ganztag auseinandergesetzt – den bildungspolitischen Intentionen beim Ausbau der Ganztagsschulen ebenso wie den Erwartungen der Schulen, der Eltern und vor allem der Schülerinnen und Schüler.
Am Ende werben sie – auch wegen der Grenzen eines einzigen Forschungsprojekts – für „vielfältige und breite Studien“, um die Gelingensbedingungen erfolgreicher Kooperationen noch genauer ausloten zu können. Ihre eigenen Ergebnisse interpretieren sie ausdrücklich so, „dass hier ein noch nicht gehobenes Potenzial liegt“ (S. 272).
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