Ganztagsschule als "Modellfall" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg, Petra Gruner

Zehn Jahre Ganztagsschulprogramm sind auch gut zehn Jahre Ganztagsschulforschung. Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) widmete sich am 10. und 11. Oktober 2013 auf ihrer Berliner Tagung „Bildung über den ganzen Tag. Forschungs- und Theorieperspektiven der Erziehungswissenschaft“ auch dem Verhältnis von Forschung und Politik sowie dem Transfer von Forschungsergebnissen.

Begonnen hatte es in Rheinland-Pfalz: Als dort 2002/2003 die ersten 81 neuen Ganztagsschulen eingerichtet wurden, förderte das Land auch die „Wissenschaftliche Begleitung der rheinland-pfälzischen Ganztagsschule in neuer Form“ durch die Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Unter Leitung des Schulforschers Prof. Fritz-Ulrich Kolbe wurden standardisierte Befragungen und Einzelfallstudien kombiniert, um das Zusammenwirken von inner- und außerschulischen Faktoren bei der Ganztagsschulentwicklung zu ermitteln. Rückmeldungen an die Schulen und prozessbegleitende Unterstützung vor Ort gehörten dazu.

Kornelia Haugg
Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung "Berufliche Bildung, Lebenslanges Lernen" im BMBF © DGfE

Ein gutes Jahr später veranstaltete das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Tagung „Ganztagsangebote in der Schule. Internationale Erfahrungen und empirische Forschungen“, auf der auch Fritz-Ulrich Kolbe sein Vorhaben vorstellte. Parallel zum Ausbau der Ganztagsschulen wurde nun eine bundesweite Begleitforschung initiiert. Über 20 Forschungsprojekte hat das BMBF seitdem mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert. Das prominenteste Beispiel ist die „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG). Im Mai 2013 veröffentlichte das Forscherkonsortium zuletzt die Ergebnisse ihrer bundesweiten Befragung von 1.300 Schulleitungen.

Welche Erkenntnisse gibt es bisher? Welche theoretischen und methodischen Zugänge wählt die Ganztagsschulforschung? Wie kann die Erziehungswissenschaft ihre Ergebnisse an Bildungspolitik und Praxis vermitteln? Mit der Fachtagung „Bildung über den ganzen Tag“ bot die DGfE ein Forum für ihre Mitglieder und Gäste, darunter auch Studierende sowie Vertreterinnen und Vertreter der Bildungsverwaltungen, um diese Fragen zu diskutieren.

Bildungsforschung und Politik

Prof. Tina Hascher von der Universität Bern begrüßte im Namen des Vorstands der DGfE die rund 100 Teilnehmenden und eröffnete die erste Vortragsreihe. Kornelia Haugg, Abteilungsleiterin im BMBF, bilanzierte zunächst die umfassende Förderung der empirischen Bildungsforschung durch ihr Ministerium. „Ein leistungsfähiges Bildungssystem braucht auch eine leistungsfähige Bildungsforschung“, erklärte sie. Die Erziehungswissenschaft als „’Leitdisziplin für die pädagogischen Berufe’, in der Ausbildung und Forschung eng zusammengehören“, sei für das BMBF ein wichtiger Partner. Die Ganztagsschulforschung stelle Fragen, die für das Bildungssystem insgesamt von Bedeutung seien: „Wie verändert sich die Institution Schule, wenn der Schultag sich in den Nachmittag hinein verlängert? Was bedeutet das für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen? Welche professionellen Anforderungen stellen sich an das pädagogische Personal?“ Dabei habe die empirische Begleitforschung die Diskussion um die Ganztagsschule versachlicht und entideologisiert.

Eckhard Klieme
Prof. Eckhard Klieme: „Forschung für und über Schulreform“ © DGfE

Was Schulforschung leisten kann, erläuterte Prof. Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in seinem Vortrag „Forschung für und über Schulreform: ‚Ganztag’ als Modellfall“: Problemdiagnosen, Erklärungswissen, Wirkungs- und Kosten-Nutzen-Analysen, auch Handlungswissen für Schulentwicklung seien „Typen von Wissen“, die die Schulforschung bereitstellen könne. Sie könne nicht Rezepte formulieren. „Der gescheiterte Bildungsgesamtplan Anfang der 70er Jahre, als die Forschung eine Zuliefererfunktion für Politik und Praxis einnehmen sollte, weist auf die Grenzen.“ Als Beispiel führte er die Hattie-Studie an: Diese zeige mehrere Ansatzpunkte für Veränderungen auf – welche davon in Maßnahmen überführt würden, müsse aber politisch entschieden werden. Schulforschung könne keine „Reformagenda aufsetzen“, die sie selbst nicht politisch und administrativ umsetzen muss.

In der Schulentwicklung wirkten zudem immer viele Faktoren zusammen, man dürfe sich keine „naiv-technologischen Wirkungen“ vorstellen. So belege StEG Wirkungen der Ganztagsschule auf die Schulmotivation und die Schulnoten. Diese Wirkungen seien aber „moderiert“ durch bestimmte Merkmale, etwa die Angebotsqualität oder das Teilnahmeverhalten. Die Ganztagsschule biete eine „Riesenmöglichkeit, den Unterricht zu verändern“, indem sie neue Professionen in die Schule holt. „Wir wissen aber noch zu wenig über die Kooperation in den Klassen“. Es komme auf die Intensität der Kooperation und die Partizipation des pädagogischen Personals bei Entscheidungen an.

Forschungsansätze kombinieren

Als Fachgesellschaft beschäftigt die DGfE, die 2014 ihr 50jähriges Bestehen feiern wird, auch die Leistungsfähigkeit erziehungswissenschaftlicher „Zugänge und Methoden“. Ein Experiment besonderer Art war es, dass Dr. Natalie Fischer, StEG-Koordinatorin am DIPF, und Prof. Kerstin Rabenstein von der Georg-August-Universität Göttingen als Protagonistinnen zweier höchst unterschiedlicher Forschungsansätze ihren Vortrag gemeinsam bestritten: Während StEG mit quantitativen Methoden generalisierende Aussagen zur bundesweiten Ganztagsschulentwicklung treffen will, hat die qualitative Studie „Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung“ (LUGS) die Entscheidungen und Prozesse in einzelnen Schulen untersucht. Beide Forschungszugänge sollten aus Sicht der Referentinnen nicht nur nebeneinander herlaufen, sondern stärker integriert genutzt werden.

Klaus-Jürgen Tillmann
Prof. Klaus-Jürgen Tillmann: "Bildungspolitik" © DGfE

Den Impulsvortrag zum Thema „Bildungspolitik“ hielt schließlich der Schulforscher Prof. Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld, seit 2005 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats von StEG und Mitinitiator der Tagung. Mit einem Rückblick auf das Jahr der ersten PISA-Ergebnisse widmete er sich der Frage, welche Schlussfolgerungen die Bildungspolitik in Bund und Ländern aus Ergebnissen der Bildungsforschung zieht, wie ernst sie es mit einer „evidenzbasierten Bildungspolitik“ meint und ob der politische Handlungsdruck eine solche überhaupt zulasse. Unterschiede zwischen Bund und Ländern ergäben sich nicht zuletzt daraus, dass die Länder für die Umsetzung zuständig sind.

Wer leistet den Transfer?

Im anschließenden Workshop „Bildungspolitik“ schloss man daran die Frage, wie viel von den bisherigen Forschungsergebnissen überhaupt in die Öffentlichkeit gedrungen sei. Prof. Gabriele Bellenberg von der Ruhr-Universität Bochum räumte selbstkritisch für ihre Profession ein: „Wir sind als Erziehungswissenschaft nicht besonders breit aufgestellt, treten zu defensiv auf und sind nicht immer am bildungspolitischen Transfer interessiert.“ Klaus-Jürgen Tillmann sieht eine Ursache darin, dass „es sich für Erziehungswissenschaftler wissenschaftlich nicht lohnt, wenn sie allgemein verständlich schreiben“.

Hans-Jürgen Kuhn, ehemaliger Referatsleiter im Brandenburgischen Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, meinte pointiert, dass „die Welten Forschung und Schule nebeneinander existieren, die Schulen kriegen von den Forschungsergebnissen doch gar nichts mit“. Er lobte demgegenüber die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ als eine der „besten Erfindungen, die die Knochenarbeit des Transfers leisten“.

„Quo vadis, Ganztagsschule?“

Thomas Rauschenbach
Prof. Thomas Rauschenbach © DGfE

Der Abendvortrag war wieder einem Mitglied des StEG-Konsortiums vorbehalten: Prof. Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut wollte unter der Überschrift „Ganztagsschule: ein Projekt ohne Konzept“ wohl einer allzu großen Selbstzufriedenheit mit dem Bisherigen entgegenwirken: Zunächst begrüßte er, dass sich die DGfE dem wichtigen Thema zuwende. Die Ganztagsschule habe in der DGfE bisher zu wenig Beachtung gefunden. Dem folgte aber ein kritischer Blick auf den Stand der Ganztagsschulentwicklung: Wenn in der Sekundarstufe I rund 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Angebote nur an ein bis zwei Tagen nutzten, müsse man eher von „Bildung über einen Tag“ sprechen.

Ein weiterer kritischer Punkt sei das Fehlen von bundesweit geltenden Qualitätsstandards. Andererseits könne man durchaus fragen, ob die Vielfalt bzw. die „Konturlosigkeit“ als kleinster gemeinsamer Nenner vielleicht sogar die „verblüffend geräuschlose Umgestaltung des Bildungssystems“ ermöglicht habe. „Es muss aber eine Debatte geführt werden, die bisher ausgeblieben ist: Wohin möchte man mit der Ganztagsschule?“

„Grau ... ist alle Theorie“

So heißt es im „Faust“. Doch die Frage, welche „Theorie“ man von der Ganztagsschule hat, ist alles andere als zweitrangig. Theorien sind in diesem Fall nicht Gegenstück zur Praxis, sondern zur Empirie, sie sind Erklärungsmodelle, mit denen die vielen empirischen Einzelbefunde geordnet werden. Und über diese wird durchaus gestritten, wie der Workshop nach dem Impulsvortrag von Prof. Sabine Reh (DIPF) zeigte. Denn neben ihr und Prof. Till-Sebastian Idel trafen zwei Diskutanten aufeinander, die beide Perspektiven einbrachten: Matthias Proske, Professor für Schulpädagogik an der Universität Köln, und Ivo Züchner, Professor für Außerschulische Bildung an der Philipps-Universität Marburg.

Welche Funktionen hat die Schule in der Gesellschaft? Ist die Ganztagsschule überhaupt noch „Schule“ im herkömmlichen Sinn, oder geht es um neue Formen der „Bildung über den ganzen Tag“? Mehr, als es auf den ersten Blick scheint, hängt von der Beantwortung solcher Fragen die weitere Entwicklung der Ganztagsschule ab, man denke nur an die Kooperation unterschiedlicher Berufsgruppen mit ihrem jeweiligen Verständnis von Bildung. Diskutiert wurde allerdings auch, ob die Ganztagsschule nicht mit der Vielfalt der ihr zugeschriebenen Aufgaben und Funktionen tendenziell überfrachtet werde.

Paul Schuknecht mit den Professorinnen Friederike Heinzel, Christine Wiezorek und Tina Hascher
"Transfer": Paul Schuknecht, Leiter der Friedensburg-Oberschule und Vorsitzender der Berliner Schulleitervereinigung, mit den Professorinnen Friederike Heinzel, Christine Wiezorek und Tina Hascher © DGfE

Der „Transfer“ war Thema des Impulsvortrags von Prof. Christine Wiezorek (Justus-Liebig-Universität Gießen). Für unterschiedliche Forschungsansätze – quantitative Studien, teilnehmende Beobachtung, Experteninterviews –, die Forscherinnen und Forscher in ein unterschiedliches Verhältnis zur Praxis bringen, zeigte sie jeweils Chancen und Grenzen der Praxisnähe auf. Sie riet aus eigener Forschungserfahrung dazu, die „Reaktion der Praxis“ sehr ernst zu nehmen, weil damit der Blick auf neue, manchmal sogar die wichtigeren Fragen gerichtet werden könne.

Was müssen und was wollen Schulen wissen?

Im anschließenden Workshop stellte Prof. Friederike Heinzel von der Universität Kassel die Rückmeldung von Forschungsergebnissen als „eine zentrale Herausforderung der Erziehungswissenschaft“ dar: „Wir sind als Hochschullehrer und Hochschullehrer auch Praktiker in der Hochschule, aber wir haben trotzdem Transferprobleme.“ Selbstkritische Töne kamen auch von der „Basis“. Paul Schuknecht, Schulleiter der Friedensburg-Oberschule in Berlin-Charlottenburg, räumte ein: „Die Schulen sperren sich oft gegen den Transfer aus der Wissenschaft. Lehrerinnen und Lehrer lesen nicht allzu viel, sie sind überwältigt vom täglichen Unterrichtsgeschehen. Werden Studien mal bekannt, dann interpretiert sie jeder so, wie er es gerne hätte.“

Als Schulleiter falle ihm die Aufgabe zu, Brücken zwischen den Kolleginnen und Kollegen und der Wissenschaft zu bauen. „Wir brauchen einen Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft. Vielleicht sollten wir auch gemeinsam Forschungsdesigns entwickeln: Was wollen wir überhaupt wissen über unsere Arbeit, unsere Schülerinnen und Schüler, meinen Erfolg als Pädagoge? Und was mache ich dann mit diesen Erkenntnissen? Verändere ich meine Arbeit?“ Schuknecht hält auch die Forschung über die Einzelschule hinaus für „unbedingt notwendig“.

Der erfolgversprechendste Weg ist für Eva Adelt vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, dass die Wissenschaft „Essenzen aus ihrer Forschung verbreitet, die dann von Einzelpersonen weitergetragen werden. Die Serviceagenturen bieten dazu gute Möglichkeiten. Ich halte eine Art Markt der Möglichkeiten, bei dem Wissenschaft und Praxis sich austauschen, nicht nur für die Ganztagsschulkongresse für wünschenswert, sondern würde so etwas gerne auch mal auf politischer Basis anregen.“

Heinz Günter Holtappels
Prof. Heinz Günter Holtappels © DGfE

Es war beabsichtigt, dass die Ganztagsschulforschung selbst im Laufe der Tagung in den Hintergrund trat, denn die Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wollten sie zum „Modellfall“ nehmen, um darüber hinaus gehende Fragen zu klären: Was ist unsere Aufgabe als Erziehungswissenschaft? In welchem Verhältnis stehen wir zur Politik? Was hat die Praxis von unseren Ergebnissen?

Zum Abschluss der Tagung kam Prof. Heinz Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund jedoch auf StEG zurück. Er bilanzierte anhand der StEG-Ergebnisse die „Entwicklung und Qualität der Ganztagsschule in Deutschland“, darunter auch jene Faktoren, die die Qualität beeinflussen und bei denen Schulen aus seiner Sicht weitere Unterstützung brauchen. Damit erhielt das Publikum am Freitagnachmittag noch einmal einen Eindruck davon, was aus den bescheidenen Anfängen von 2003 geworden ist – und was künftig noch zu leisten sein wird.

 

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