Forschungen zu Familie, Peers und Ganztagsschule - Teil 2 : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Teil 2 unseres Berichtes über die Bilanztagung "Familie und Ganztagsschule", die am 6. und 7. Mai 2010 im Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München stattfand.

Als im Jahr 2007 die Ergebnisse ersten Erhebung der "Studie zur Entwicklung der Ganztagsschulen" (StEG) aus dem Jahr 2005 vorlagen, fielen die Reaktionen der Tagespresse verhalten positiv aus. So titelten etwa die überregionale "tageszeitung": "Ganztags Schule schadet nicht" und "Die Welt": "Ganztagsschulen laut Studie keine Gefahr für Kinder". Dabei hatte die Studie immerhin festgestellt, dass "Ganztagsschulen einen deutlichen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf leisten, wobei sich ihre Bedeutung besonders im Grundschulbereich niederschlägt", so Dr. Ivo Züchner, Erziehungswissenschaftler an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt und Mitautor der StEG-Studie auf der Bilanztagung "Familie und Ganztagsschule", die am 6. und 7. Mai 2010 im Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München stattfand.

Im Jahr 2005 stand noch stärker die quantitative Dimension des Auf- und Ausbaus von Ganztagsschulen im Blickpunkt, die StEG-Untersuchung war gerade erst gestartet. Dass diese seit 2007 durch qualitative Studien ergänzt und vertieft werden musste, lag auf der Hand, da die praktische Verbesserung der Qualität von Ganztagsschule auch auf eine differenzierte, lebensweltliche Perspektive auf komplexe Prozesse innerhalb der Ganztagssettings angewiesen ist. Mit anderen Worten: Je mehr man sich der Praxis nähert, desto wichtiger werden auch qualitative Forschungsmethoden: "Die individuelle Entwicklung von Schulen lässt sich mit qualitativen Methoden besser abbilden", meinte Dr. Gunther Graßhoff von der Johannes Gutenberg Universität Mainz in seinem Vortrag über Forschungsmethoden.

Wofür ist die qualitative Forschung gut?

Die Forschungsprojekte, die das BMBF seit 2007 mit einem Förderschwerpunktprogramm angeschoben hat, sind erst der Anfang eines verzweigten Gewebes aufeinander verweisender Studien mit hoher Praxisrelevanz. Die Ergebnisse dieser Studien verdeutlichten, dass die Befunde der StEG-Studie das Fundament der Diskussion bilden. Ein Beleg dafür war der Vortrag von Ivo Züchner zum Thema "Quantitative Befunde der StEG-Studie zum Verhältnis Familie, Peers und Ganztagsschule".

Ein interessanter Befund, den Züchner vorstellte, lautet, dass die Eltern in der Grundschule eine Betreuung ihrer Kinder am dringendsten benötigen. Und tatsächlich gelang es der StEG-Studie zu belegen: "Die Ganztagsschule führt zu einer erweiterten Beschäftigung von Müttern." Dabei komme die Betreuung in der Ganztagsschule insbesondere Eltern mit niedrigem Berufsstatus sowie Eltern mit Migrationshintergrund entgegen.

Demgegenüber nimmt ein großer Teil der Eltern die Ganztagsschule als Unterstützung und Entlastung bei ihren Erziehungsaufgaben und vor allem in der Schulvorbereitung wahr. Immerhin die Hälfte der befragten Mütter fühlten sich durch die Hausaufgabenhilfe entlastet. Der Besuch der Ganztagsschule ist aber auch mit anderen positiven Entwicklungen verbunden. So steigt die Kommunikation über Schule bei den Kindern, die konsequent die Ganztagsschule besuchen, mit ihren Eltern in den unteren Schichten deutlich an.

Empirisch belegt: erweiterte Beschäftigung von Müttern

Martina Richter am Rednerpult
Martina Richter.

Was soll die Ganztagsschule eigentlich aus Sicht der Akteure leisten, und wie passen Familie und Schule - Konzept der kulturellen Passung - zusammen? Diese Fragen beantwortete Martina Richter von der Universität Bielefeld in ihrem Vortrag "Familie als Akteure in der Ganztagsgrundschule". Das Projekt, das Ganztagsgrundschulen in Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen untersuchte, richtete seinen Fokus auf die Perspektive von Eltern, hat aber auch die Kinder selbst sowie das pädagogische Personal ausführlich befragt. Laut Martina Richter wirken die sozioökonomischen Probleme immer stärker in Familien hinein. Demzufolge gelangt der zunehmende Druck auf die soziale Platzierung der Eltern zunehmend in das Bewusstsein der Kinder. Dies hat Auswirkungen auf die Schulen.

So legen viele Eltern großen Wert darauf, dass soft skills und kulturelle Fähigkeiten für die Zukunft ihrer Kinder nicht zu kurz kommen. Während den Eltern wichtig ist, dass ihren Kindern informelles Können wie Werte, Normen und soziale Kompetenzen vermittelt werden, unternehmen auch sie selbst erhebliche Anstrengungen, um ihnen das Rüstzeug für soziale und kulturelle Kompetenzen zu vermitteln: "Ressourcenstarke Eltern entscheiden sich dafür, ihren Kindern zusätzlich außerschulische Angebote zu ermöglichen", erläuterte Martina Richter. Dagegen verlassen sich ressourcenschwache Eltern stärker auf die Angebote, die die Ganztagsschule ihren Kindern macht.

Nach wie vor begreifen sich die Lehrkräfte vielfach als Wissensvermittler, allerdings auch deshalb, weil sie die Befürchtung hegen, dass sie zunehmend mit sozialarbeiterischen Aufgaben belastet werden. Bei den Eltern konstatieren Lehrkräfte diverse Erziehungsdefizite. Mit solchen Zuschreibungen bestehe jedoch die "Gefahr, dass Bildungsungleichheit perpetuiert wird". Auch erwarten die Eltern, dass sich die Professionellen im Falle von Problemen direkt an sie wenden. Demgegenüber agieren die Professionellen häufig paternalistisch, nicht selten betrachten sie Eltern "als hilfsbedürftige Personen" und nicht als kompetente Partner.

Zum Verhältnis von Vater und Mutter stellte Martina Richter fest: "Die Mütter unternehmen als Managerinnen des Alltags große, auch finanzielle Anstrengungen, um ihre Kinder zu fördern." Ein Problem für die Eltern beziehungsweise die Mütter, die sich laut der Studie immer noch wesentlich stärker als die Männer in die Erziehung einbringen (auch zu den Interviews meldeten sich fast nur Mütter), erwachse daraus, dass nicht erledigte Aufgaben in der Schule zu Elternaufgaben werden. In der abschließenden Diskussion plädierte der Erziehungswissenschaftler Dr. Heinz-Jürgen Stolz vom Deutschen Jugendinstitut dafür, nicht die Familien, sondern die Schule passend zu machen.

Peers: Schlüsselfiguren für die soziale und emotionale Entwicklung

Soziale Netzwerke und informelle Bildungsprozesse - wie wirkt sich Ganztagsschule auf sie aus und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Ein Projekt zu dieser Fragestellung stellte Prof. Maria von Salisch von der Leuphana Universität Lüneburg vor. Unter dem Titel "Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Einbindung von Jugendlichen in Peer-Netzwerken und auf die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen" referierte sie die Ergebnisse.

"Die Jugendlichen stehen unter Druck", so von Salisch. Zum einen wegen ihrer stürmischen biologischen Entwicklung, zum anderen wegen zunehmender gesellschaftlicher Erwartungen, darunter auch schulischer Anforderungen. Umso wichtiger sei der Aufbau tiefer und intensiver Entwicklungen zu Gleichaltrigen: "Freunde sind als Entwicklungshelfer einzigartig. Sie stehen vor den gleichen Entwicklungsaufgaben. Peers sind Schlüsselfiguren für die soziale und emotionale Entwicklung."

Die Bedeutung, die die Entwicklung von Peer-Beziehungen in den Ganztagsschulen hat, erschließt sich nur in einer Längsschnittstudie. Sie erfasst den Zusammenhang zwischen Peer-Beziehungen und den sozialen sowie emotionalen Kompetenzen im zeitlichen Verlauf - und zwar über ein Schuljahr hinweg. Für diese Zwecke befragten Prof. von Salisch und ihre Mitarbeiter, Dr. Rimma Kanevski sowie Maik Philipp, rund 400 Jugendliche im Land Brandenburg, die nach der sechsjährigen Grundschule auf eine Ganztagsschule respektive eine vergleichbare Halbtagsschule wechselten.

Größere emotionale Aufmerksamkeit, weniger Gewaltbereitschaft

"In den Ganztagsschulen gibt es mehr reziproke Beziehungen", führte von Salisch aus. Ein Effekt der Sekundarschulen allgemein ist es, dass die "Qualitätsbeziehungen", also viele "beste Freunde" zu haben, bei beiden Schulformen im Übergang zur 7. Klasse zurückgehen. Das ausgeprägtere Zusammenleben hat in einer Ganztagsschule aber deutlich positive Auswirkungen auf die Qualität der Freundschaftsbeziehungen durch Interaktionseffekte. So berichtete von Salisch, dass die Aufmerksamkeit für fremde Emotionen durch den Besuch der Ganztagsschule zunehme.

Positiv zu werten ist ferner, dass sowohl Mädchen als auch Jungen aufmerksamer für ihre eigenen Emotionen werden: "Bei Jungen, die eine Ganztagsschule besuchen, geht die Neigung zur körperlichen Aggression am Ende der 7. Klasse zurück", führte die Entwicklungspsychologin aus. Demnach hat die Peer-Studie ebenso wie aus anderer Perspektive die StEG-Unterstuchung eine Reduktion der Gewaltbereitschaft durch den Besuch einer Ganztagsschule festgestellt: "Den Ganztagsschulen gelingt es offensichtlich, das Unterstützungspotenzial von Freunden und Peers zu nutzen."

Die Ergebnisse der Studie sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Einführung des G 8-Gymnasiums von Bedeutung, die ja zum Teil mit neuen physischen und psychischen Belastungen verbunden ist. Durch den Besuch der Ganztagsschule verbessere sich die Kommunikation in den Familien und viele Jugendliche bekämen die Chance, stabile Freundschaften zu schließen, die ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen stärkten, ergänzte Maria von Salisch.

Halbtagsdidaktik in der Ganztagsschule fehl am Platz

Wer sich ein Bild von den zentralen Praxis-Problemen von Ganztagsschulen machen wollte, war in der anschließenden Diskussion bestens aufgehoben. Der intensive Erfahrungsaustausch verdeutlichte, wo sich Baustellen der Ganztagsschulen befinden. Beispiel Bayern: Hier waren sich die Teilnehmer der Podiumsdiskussion einig, dass in dem südlichen Land viel passiert ist. So wurden die offenen und gebundenen Ganztagsschulen stark ausgebaut und auch beim G 8-Gymnasium ein Missstand ausgeglichen, wie Till Kellerhoff von der LandesschülerInnenvereinigung Bayern herausstellte. Johann Wolfgang Robl von der Hauptschule Ismaningen äußerte die Hoffnung, dass über den Ausbau des Ganztagsangebotes mehr Jugendliche den Realschulabschluss meistern.

Eine höhere Teilnahme am Ganztag erreicht man sicherlich durch eine bessere Qualität der Ganztagsangebote. Was darunter konkret zu verstehen ist, darüber divergierten allerdings die Meinungen. Laut Schulleiter Robl muss ein Paradigmenwechsel im Unterricht erfolgen: "Mit einer Halbtagsdidaktik komme ich in einer Ganztagsschule nicht zum Erfolg." Eine bessere Peergroup-Education ist für Astrid Hummeltenberg von der Johann-Andreas-Schmeller-Realschule Ismaning der Schlüssel für mehr Qualität: Gleichaltrige Jugendliche sollten mehr Verantwortung für den Schulalltag übernehmen. Mehr Lehrerwochenstunden und ein besserer Lehrer-Schüler-Schlüssel hält die Sozialpädagogin Tineke Deckert für notwendig, um eine bessere Beziehungsarbeit zu leisten.

Mehr relevantes Wissen macht die Ganztagsschule in den Augen des Schülervertreters Till Kellerhoff attraktiver, der pointiert fragte, was Wissen über chemische Gleichungen nütze, wenn grundlegendes Wissen über die Zeitgeschichte und die Politik nicht vermittelt würden? Eine wichtige Dimension ist auch die Qualität der Räume, die für den Ganztag zu Verfügung stehen. Die bessere Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe gehört ebenfalls zu den elementaren Voraussetzungen. Dies erfordert laut Dr. Anja Durdel von der DKJS, dass Kultusministerien und Sozialministerien zusammenarbeiten.

Von symmetrischen Prozessen zwischen Schulen und Familien

Zum Abschluss der Tagung kommentierte die Familien- und Bildungssoziologin Dr. Anna Brake von der Universität Augsburg den wissenschaftlichen Ertrag der Forschungsprojekte. Dieser habe ihr näher gebracht, was Ganztagsschule im Kern ausmacht. Dazu gehöre die Perspektive der Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Perspektive der Lehrkräfte, der Sozialpädagogen oder Schulleitungen. Da die Ganztagsschule bislang eine Black Box gewesen sei, ist es laut Anna Brake umso höher einzuschätzen, dass die Forschung, die das BMBF angestoßen habe, es nun erlaube, die Frage zu beantworten: Welche Aspekte von Ganztagsschule bringen welche Wirkungen hervor?

"Es gibt nicht nur die Hoffnung, sondern konkrete Indizien dafür, dass Ganztagsschulen einen Beitrag dafür leisten können, soziale Ungleichheit und Bildungsungerechtigkeit abzubauen." Es gehe um einen symmetrischen Prozess mit wechselseitiger Öffnung von Schule und Familie. Eine zentrale Fragestellung zukünftiger Studien lautet für Brake: "Was passiert in der Ganztagsschule in ihrer ganzen Heterogenität?"

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