Forschung zur Kinder- und Jugendhilfe in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Ganztagsschule ohne die Kinder- und Jugendhilfe ist nicht denkbar. Umgekehrt muss sich die Kinder- und Jugendhilfe verstärkt in den Schulen engagieren. Welche Schritte nötig sind, das nicht immer spannungsfreie Verhältnis zukunftsweisend zu gestalten, zeigt eine Studie des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg, die am 19. Juni 2013 in Gültstein vorgestellt wurde.

Dass der 19. Juni 2013 der bislang heißeste Tag des Jahres sein würde, konnten die Veranstalter der Tagung „Ergebnisse des Forschungsvorhabens ‚Auswirkungen des Ausbaus der Ganztagsschulen auf die Strukturen und Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg’“ bei ihrer Planung natürlich nicht ahnen. Aber kaum eine oder einer der 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer verlässt die Veranstaltung des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) im Tagungszentrum Gültstein (Landkreis Böblingen) vorzeitig.

Das sichtbar hohe Interesse an den Ergebnissen der Forschung, die die Hochschule Osnabrück und das Institut für soziale Arbeit (ISA) in Münster von 2010 bis 2013 im Auftrag des KVJS durchgeführt haben, zeigt sich an diesem Tag auch an den engagierten Diskussionen in den Workshops am Nachmittag. Jugendhilfeeinrichtungen und Wohlfahrtsverbände erhoffen sich Erkenntnisse und Anregungen für die Ausgestaltung ihrer Kooperation mit Ganztagsschulen. Die Anwesenden aus Schulämtern, Landratsämtern sowie Stadtverwaltungen sind an Informationen und Impulsen für die Steuerung der Bildungsregionen und der regionalen Schulentwicklungsplanung interessiert.

„Ohne Jugendhilfe geht gar nichts“

Das Thema gewinnt durch den verstärkten Ausbau der Ganztagsschulen in Baden-Württemberg an Brisanz. Im bundesweiten Vergleich liegt das Bundesland zwar noch zurück, aber die Landesregierung hat als Ziel formuliert, dass alle Kinder im Land die Möglichkeit haben sollen, in zumutbarer Entfernung eine Ganztagsschule zu besuchen. Bei den Grund- und Hauptschulen wird zum Schuljahr 2014/15 ein Anteil von 40 Prozent angestrebt. Bruno Pfeifle, Leiter des Jugendamts Stuttgart, erklärte beispielhaft auf der Podiumsdiskussion, dass bis 2020 alle Grundschulen der Landeshauptstadt als Ganztagsschulen organisiert sein sollen. Momentan arbeiten von 73 Grundschulen 35 ganztägig. „Ein zentraler Bestandteil unseres Konzeptes ist, dass ohne die Jugendhilfe gar nichts geht“, erklärte der Amtsleiter.

Da sich absehbar immer mehr Kinder und Jugendliche in der Ganztagsschule befinden, muss sich die Kinder- und Jugendhilfe darauf einstellen, mit ihren präventiven und lebensweltorientierten Angeboten in den Schulen selbst erreichbar zu sein. Dies bietet einerseits die Chance, den Aktionsradius zu erweitern, da gerade die Kinder- und Jugendhilfe über die für eine ganztägige Bildung benötigten Kompetenzen verfügt. „Wir müssen dort stärker präsent sein, zumal die Ganztagsschule dort an ihre Grenzen stößt“, erklärte Prof. Roland Klinger, der KVJS Verbandsdirektor, zum Auftakt der Tagung. Auf der anderen Seite könnte die Jugendhilfe in ihren originären Handlungsfeldern durch die Verlagerung von Aktivitäten und Fachpersonal in die Schulen eingeschränkt werden. Bereits jetzt sei laut KVJS eine Sogwirkung der Schule als „Ressourcenstaubsauger“ der Jugendhilfe zu beobachten.

Handbuch „Kinder- und Jugendhilfe gestalten“

Gebraucht wird eine integrierte Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung. Aber ob und wie diese erfolgt und welche Wirkungen sie hinsichtlich Finanzierung, Personal und Organisation erzielt, weiß man kaum. Der Kommunalverband für Jugend und Soziales initiierte daher das Forschungsvorhaben, um eine reflektierte und fachlich gesteuerte Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu gewährleisten. Mit Prof. Dr. Stephan Maykus von der Hochschule Osnabrück beauftragte der Verband einen ausgewiesenen Experten in Sachen Ganztagsschule und Jugendhilfe. Zusammen mit Sabrina Brinks und Lisa Kasper führte Maykus das Projekt in drei Phasen durch.

Von Dezember 2010 bis Mai 2011 unternahm das Team eine Literaturanalyse und führte ein Expertengespräch. Von Juni 2011 bis Oktober 2012 fanden quantitative und qualitative Erhebungen bei den Jugendämtern Baden-Württembergs statt. Darüber hinaus führte das Team eine Dokumentenanalyse in zwölf repräsentativ ausgewählten und mit dem KVJS abgestimmten Stadt- und Landkreisen sowie je zwei bis drei vertiefende Experteninterviews in diesen Stadt- und Landkreisen durch. Es folgten vertiefende Profilanalysen in Form von zwei Praxis-Workshops in vier dieser zwölf Stadt- und Landkreise.

Im dritten Schritt dokumentierten die Forscherinnen und der Forscher ihre Ergebnisse mit dem Handbuch „Kinder- und Jugendhilfe gestalten - Ganztagsschule als Impuls für kommunale Praxisentwicklungen“ sowie einer CD-ROM (mit Checklisten, Praxisbeispielen, Arbeitshilfen und Anregungen). Dieses über 200 Seiten starke Handbuch wurde auf der Tagung in Gültstein präsentiert; es ist – zusammen mit vier umfangreichen Materialbänden – auch im Internet verfügbar.

„Ganztagsschule hat der Jugendhilfe viele Türen geöffnet“

„Das Thema des Verhältnisses von Schule und Jugendhilfe ist nicht neu, es wird seit 30 Jahren diskutiert“, so Stephan Maykus bei der Präsentation, „aber inzwischen ist die Reichweite eine ganz andere. Die Ganztagsschule hat der Kinder- und Jugendhilfe viele Türen geöffnet, und in vielen Erlassen ist sie ausdrücklich als Kooperationspartner genannt.“ Nun bedarf es laut Maykus einer Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, die „sich selbst forciert“.

Die zentralen Ergebnisse seiner Studie schlüsselte der Forscher nach verschiedenen Bereichen auf: Bei der Kinder- und Jugendarbeit verändern sich die Konzepte offener Jugendarbeit hin zu Angeboten „über Mittag“, aber auch zur Ferienbetreuung. Insgesamt sei noch offen, ob die Ganztagsschulentwicklung zu mehr oder weniger Adressatenkontakten der offenen Jugendarbeit führen werde. Derzeit führten die Jugendverbände noch eine Doppelstrategie durch Profilierung ihrer außerschulischen Angebote und Annäherung an die Ganztagsschule, von der sie sich jedoch – mit Ausnahme des Sports – nicht als attraktiver Bildungspartner bewertet fühlen. Zugleich werden Bedenken deutlich, das charakteristische Selbstbild der Jugendarbeit durch die Arbeit in der Ganztagsschule nicht vollständig beibehalten zu können und den Charakter der Freiwilligkeit und der Offenheit zu verlieren.

Ganztagsschulen bieten Chancen durch niederschwellige Angebote

„Um Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Ganztagsschulausbaus gestalten zu können, müssen schulbezogene Angebote besser erfasst und gezielt in Planungsprozesse einbezogen werden“, erklärte Maykus. „Die kommunalen Jugendreferate müssen Konzeptentwicklungen initiieren und eine intensive Zusammenarbeit mit den Stadt- und Kreisjugendringen anregen.“ In der Kooperation mit Ganztagsschulen brauche es klare Kooperationsvereinbarungen und Standards für Aufträge, Rolle und Zuständigkeiten – eine Einschätzung. die durch Diskussionsbeiträge aus dem Plenum bestätigt wurde.

Maykus weiter: „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendarbeit müssen sich gezielt auf das neue Arbeitsumfeld einstellen und durch Weiterbildungsmaßnahmen und Supervisionen vorbereitet und begleitet werden. Nicht zuletzt muss die Kinder- und Jugendarbeit ihren Stellenwert im Aufwachsen junger Menschen auch nach außen präsentieren, sich deutlich stärker in entstehenden Bildungslandschaften einbringen und ihre Kompetenzen selbstbewusst vertreten.“

Im Unterschied zur Jugendarbeit sind die befragten Träger der Hilfen zur Erziehung (HzE) der Auffassung, ihre spezifische Qualität auch bei Angeboten in Ganztagsschulen beibehalten zu können. Sie erkennen einen relevanten neuen Arbeitsbereich und befassen sich bewusst mit Fragen der Neuausrichtung ihrer Angebote an Ganztagsschulen, insbesondere soziale Gruppenarbeit und flexible Erziehungshilfen. Trotzdem sind die freien HzE-Träger „bislang nur in erstaunlich geringem Umfang in ganztagsschulbezogene Netzwerke eingebunden und bilden auch selbst keine Kooperationsverbünde im Hinblick auf Angebote für Ganztagsschulen“, berichtete Lisa Kasper in ihrem Workshop-Vortrag. Die in Ganztagsschule integrierten Angebote hätten dabei häufig einen niederschwelligen Charakter und erleichterten Eltern und Familien den Zugang.

Systematische kommunale Bildungsplanung nötig

Bislang scheint die Planung und Gestaltung der zukünftigen Ganztagsbildung noch einen verhältnismäßig geringen Stellenwert in den Jugendämtern einzunehmen. „Der Ausbau der Kleinkindbetreuung dominiert derzeit die öffentlichen und fachinternen Diskussionen. Den Fachberatungen der Kindertagesbetreuung scheint der Stellenwert des Ganztagsschulausbaus und vor allem ihre Rolle innerhalb dieser Neustrukturierungen vielerorts noch nicht bewusst zu sein“, berichtete Stephan Maykus.

Die Ergebnisse der Studie machen dem Wissenschaftler zufolge „deutlich, dass es eine Bildungsinfrastruktur, die diesen Namen verdient, ohne systematische kommunale Bildungsplanung nicht geben wird und dass damit den Planungs- und Steuerungsaufgaben eine besondere Bedeutung zukommt“. Der KVJS empfiehlt auf Grundlage der Studie nun die Bestimmung des Verhältnisses von Jugendhilfe- und Bildungsplanung in den Stadt- und Landkreisen mit dem Ziel der Aufgabenschärfung einer schulbezogenen Jugendhilfeplanung. Das Land Baden-Württemberg müsse dazu Rahmenbedingungen für das Zusammenwirken von Jugendhilfe und Ganztagsschule schaffen. Neben der „überfälligen gesetzlichen Regelung der Ganztagsschule“ komme es auch auf landesweite Regelungen zur regionalen Schulentwicklung an.

Mit der Vorlage des Handbuchs auf der Tagung in Gültstein ist das Forschungsprojekt indes nicht abgeschlossen. „Dieses Ende ist zugleich ein Anfang“, erklärt Stephan Maykus. „Jetzt geht es darum, die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und darüber zu diskutieren.“ Der Wissenschaftler wird seinen Teil dazu beitragen: Der KVJS hat Maykus bereits zu Vorträgen in den Jugendhilfeausschüssen eingeplant.

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