Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates im Spiegel der Geschichte : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Die Fachtagung "Welfare State Regimes, Public Education and Child Care. Theoretical concepts for a comparison of East and West" beleuchtete Länderbeispiele in Europa und den USA.
Dass die Wohlfahrtsstaaten derzeit keinen guten Leumund haben, merkt man auch daran, dass viele sie für antiquiert halten und manche sie am liebsten im Museum der Sozialgeschichte sähen. Dass sie da am wenigsten hingehören, offenbarte am 31. März und 1. April 2006 ein interdisziplinärer Workshop, den das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZH) in Potsdam veranstaltete.
Die Initiatorin des Workshops, Prof. Karen Hagemann, die seit einiger Zeit an der University of North Carolina in Chapel Hill als Historikerin lehrt, bringt von Haus aus ein großes Verständnis für interdisziplinäre und international vergleichende Forschung mit. Genauso Prof. Konrad Jarausch, der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung und Prof. Christina Allemann-Ghionda, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität zu Köln, die ebenfalls zu den Veranstaltern zählte. Sie luden über 20 Expertinnen und Experten aus der Soziologie, den Erziehungswissenschaft und der Geschichtswissenschaft ein - also aus fast allen Staaten Europas und aus den USA - um sich über den Zusammenhang von Wohlfahrtsstaat, öffentlicher Erziehung und Kinderbetreuung auszutauschen.
Bei aller Kritik, die dem Wohlfahrtsstaat entgegenschlägt, ist doch festzustellen, dass er nicht zuletzt das Fundament für die Bildungsexpansion und die staatliche Kinderbetreuung gelegt hat. Damit hat der Wohlfahrtsstaat im 19. und 20. Jahrhundert die Zukunftsfähigkeit breiter Bevölkerungsschichten in der westlichen Welt erst möglich gemacht. Eine zeithistorische Bestandsaufnahme über die Rolle des Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert und der Vergleich zwischen den Sozialstaatsmodellen in Ost und West war also überfällig. Der Fall des Eisernen Vorhangs, der dem Jahr 1989 eine welthistorische Dimension verliehen hat, hat nicht nur die Systemkonkurrenz beendet, er hat auch den Erosionsprozess des Wohlfahrtsstaates eingeleitet, der bis heute spürbar anhält.
Die Suche nach der Zukunft der Wohlfahrt
Es grenzt vor diesem Hintergrund an eine Ironie der Weltgeschichte, dass sich nun, im Jahre 2006, Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus dem ehemaligen Osten und Westen, also aus Polen, Rumänien, Ungarn, Tschechien, Deutschland, aber auch aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Frankreich, der Schweiz und den USA auf einem interdisziplinären Workshop treffen, um sich über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Wohlfahrtsstaates in Ost und West zu verständigen. "Die Probleme des gegenwärtigen Nationalstaates und die unterschiedlichen Wege des Wohlfahrtsstaates lassen sich nur historisch erklären", solche Kommentare waren nicht selten zu hören während des Workshops in Potsdam.
Auch wenn die Teilnehmerzahl von den Organisatoren begrenzt wurde, kann die Bedeutung dieses Workshops, der von der VolkswagenStiftung finanziert wurde, kaum hoch genug eingeschätzt werden. Das lag nicht nur an der Reputation der Wissenschaftler (übrigens auch der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler) aus Europa und den USA, sondern auch daran, dass sich diese sich auf einen interkulturellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs über einen Gegenstand eingelassen haben, der von großer Bedeutung ist für die Zukunft der demokratischen Gesellschaften. Denn mit der Option Staat versus Liberalismus oder staatliche Regulierung des Bildungssystems einerseits und Privatisierung öffentlicher Güter andererseits kommt die Kernproblematik der gegenwärtigen Krise des Sozialstaates unter dem Vorzeichen der Globalisierung deutlich zum Ausdruck.
Der Wettstreit um die Wahrheit des Ganzen
Die Herausforderung bestand ferner darin, die methodologischen und theoretischen Architekturen der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsrichtungen zu diskutieren. "Welfare State Regimes, Public Education and Child Care. Theoretical concepts for a comparison of East an West" wie der offizielle Titel der Veranstaltung lautete, sollte die Grundlagen für eine neue Dimension international vergleichender Forschung schaffen.
Dass dies gelingen konnte, verdankt sich nicht zuletzt dem gegenseitigen Respekt der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und darüber hinaus auch ihrem Anspruch, diskursiv für das beste Argument zu kämpfen. Dabei fiel auf, dass weibliche Eigenschaften wie aktives Zuhören, Toleranz und Bescheidenheit sich auch auf die männlichen Kollegen ausdehnten. Keine Hahnenkämpfe, keine "Mir-gehört-das-Wort-Attitüde". Das war mehr als wohltuend und es war wohl der Schlüssel für den Erfolg dieser gleichermaßen international und heterogen zusammengesetzten Gesellschaft von Forscherinnen und Forschern in Potsdam.
Dem diskursiven Wettstreit um das beste Argument korrespondierte ein angenehmer Habitus der Wissenschaftler. So wurde das Bedürfnis nach Zustimmung in scheinbar unbedeutendnen Gesten bekundet wie Nicken, Lächeln oder im Falle des Widerspruches mit einem geneigten bzw. aufgestützten Kopf. Dieses stille Repertoire wurde unterstützt durch impulsives, engagiertes, nüchternes oder ernsthaftes Temperament der Wissenschaftler, von denen übrigens sieben bis acht junge Nachwuchswissenschaftlerinnen waren. Ist die Zukunft der internationalen Bildungsforschung weiblich?
Während des Potsdamer Workshops, dessen Konferenzsprache übrigens Englisch war, verbreitete sich ein Konsens, dass solche interdisziplinären Foren die Zukunft der Forschung noch besser spiegeln als hochkarätige Kolloquien innerhalb der Institute. Dazu passte auch die Bemerkung der deutsch-italienischen Erziehungswissenschaftlerin Prof. Christina Allemann-Ghionda, dass "die Bildungssysteme sich in Europa kontinuierlich angleichen".
Soll die Forschung Motor der Reformen sein?
Die Diskussion unterschiedlicher theoretischer Konzepte zur vergleichenden Analyse des Wohlfahrtsstaates in Europa und den USA wurde auf dem Workshop - zum Teil anschaulich, zum Teil auch relativ abstrakt - an Länderbeispielen geführt. Doch eine zentrale Diskussion des Workshops kreiste um die Fragestellung, ob die Forschung selbst zum Motor von Bildungsreformen werden kann oder ob es ihr besser bekommt, wenn sie eine wissenschaftliche Distanz zur Macht einnimmt.
Diese Diskussion entzündete sich an dem vielbeachteten Vortrag von Rainer Treptow, Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Tübingen. Unter der Überschrift des Workshops hatte Treptow die Fragestellung entwickelt, inwiefern eine internationale Kooperation zwischen Projektpartnern auf dem Gebiet der Sozialarbeit nicht auch erfordere, dass die spezifischen nationalen Bedingungen und historischen Kontexte einem systematischen Vergleich unterzogen würden, um solchen Kooperationen größere Erfolgschancen einzuräumen. Treptow sah auf diesem Gebiet einen großen Mangel an internationaler Forschung und plädierte für eine Theorie der Makro-, Meso- und Mikroebenen.
Nur selektiver Einfluss der Forschung?
Auf die - im Vortrag - aufgeworfene Frage, wie wichtig die Forschung für jene Entscheidungsprozesse sei, die den Wohlfahrtsstaat selbst betreffe, folgerte Treptow: "Die Forschung muss sich in kritischer Distanz zur Reformpolitik begeben." Den akuten Bedarf an international vergleichender Forschung machte Treptow an der jüngsten deutschen Geschichte selber fest: "Deutschland befindet sich in zwei parallelen Prozessen der Integration: der europäischen Integration seit 1985 und der deutschen Einheit seit 1989".
Wenn man vor diesem Hintergrund die Periode der Systemkonkurrenz mitbedenkt, in der sich Ost- und Westdeutschland von 1945 bis 1989 befanden, leuchtet Treptows These umso mehr ein, dass international vergleichende Forschung die Aufgabe hat, sich in ideologischen Konfliktzonen nicht zu zerreiben. Auf Beispiele für die weitreichende Bedeutung reformorientierter Forschung kam Treptow ebenfalls zu sprechen: den Siebten Familienbericht der Bundesregierung "Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit", dessen Sachverständigenkommission der Soziologe Prof. Hans Bertram - der übrigens an dem internationalen Workshop teilnahm - vorstand, und die PISA-Studie der OECD. PISA habe bereits Auswirkungen auf die Reform der Kinderbetreuung gezeitigt. "Der Familienbericht wird Einfluss auf alle Themen der Forschung haben", fügte Treptow hinzu.
Christina Allemann-Ghionda von der Universität zu Köln nahm in ihrem Ko-Referat zu Treptows Vortrag auch Stellung zur Rolle der Wissenschaft in Bezug auf die Bildungspolitik. Zu den verschiedenen Faktoren, die die Bildungspolitik beeinflussen können, rechnete Allemann-Ghionda folgende: Transformationsprozesse der Gesellschaft, ökonomische Entwicklungen, Krisen, Interessengruppen, Wahlen, internationaler Druck (also beispielsweise die Europäische Integration, der Bologna-Prozess oder die OECD-Studien). "Die OECD hat einen viel größeren Einfluss als die Forschung an den Universitäten", betonte die Erziehungswissenschaftlerin. Zwar könnte die Forschungsarbeit des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) zu den Bildungsstandards bildungspolitisch relevant werden, doch insgesamt sei "der Einfluss der Forschung sehr selektiv".
Faktor Politik: "Ein perfektes System der Kinderbetreuung"
Um diesem "Bedeutungsmangel" abzuhelfen, empfahl Treptow in der anschließenden Diskussion: "Die Forschung sollte sich stärker in die öffentliche Diskussion einbringen." Dass die Große Koalition fortschrittliche Maßnahmen der Kinderbetreuung vorhabe, habe mehr politische Gründe als wissenschaftliche.
Der Autor des Siebten Familienberichtes der Bundesregierung, Hans Bertram, gab Treptow Recht. "In zehn Jahren werden wir in Deutschland ein perfektes System der Kinderbetreuung von Kindern unter drei Jahren haben." Der Grund: Die politischen Bedingungen seien eben unter der Großen Koalition günstig.
Auf der Suche nach einer Forschungsagenda der nächsten zehn Jahre, die Karen Hagemann in der abschließenden Diskussionsrunde ins Gespräch brachte, erinnerte Konrad Jarausch an die sich verschlechternden Bedingungen für die Forschung insgesamt. So bleibt zu hoffen, dass der Potsdamer Workshop mit seinem Forschungsnetzwerk nicht nur auf die Zukunft des Wohlfahrtsstaates spekuliert, sondern auch in die Zukunft der unabhängigen Forschung selbst.
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