Aufbruchstimmung in Forchheim (Oberfranken) : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Aufbruchsstimmung in Bayern: Nicht nur mehr Ganztagsschulen, sondern vernetzte, auf Qualität beruhende Bildungsregionen hat das Land auf seine Agenda gesetzt. Dies verdeutlichte eindrucksvoll eine Tagung zum Thema "Ganztagsschule - Forschung, Erfahrungen, Praxis", die am 28. und 29. Februar 2008 in Forchheim veranstaltet wurde. Dabei wurde in Bayern eine Premiere begangen, denn nie zuvor haben sich im Land so viele Fachleute zur Idee und Praxis der Ganztagsschulen ausgetauscht. Von Forchheim - darin waren sich die Veranstalter der Tagung einig - ging ein Signal für die Ganztagsschulen in Bayern aus.
Eine Tagung in Bayern, die noch lange im Gedächtnis bleiben wird: In Forchheim (Oberfranken) waren die Ganztagsschulen erstmals Gegenstand einer parteienübergreifenden Debatte und Mittelpunkt einer Veranstaltung von überregionaler Bedeutung: "Dass so eine Veranstaltung in Bayern stattfindet, ist sensationell", fanden Dr. Birgit Hoyer vom Zentrum für Lehrerbildung der Universität Würzburg und Prof. Sybille Rahm vom Bamberger Zentrum für Lehrerbildung als Mitveranstalter der Tagung.
Starke Partner standen ihnen zur Seite, darunter das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, die Initiative FOrsprung, der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband, der Bayerische Philologenverband, der Bayerische Realschullehrerverband, die Heidehof-Stiftung, die Oberfranken-Stiftung und weitere private Unterstützer.
Wenn Politiker zuhören und sich fortbilden
Nie zuvor hätten sich Lehrkräfte und Wissenschaftler auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Thema Ganztagsschule beschäftigt. Wichtig sei, dass diese Diskussion nun ideologiefrei geführt werde, meinte Dr. Thomas Beck, Geschäftsführer des Bamberger Zentrums für Lehrerbildung. "Nicht nur viele Schulleiterinnen und Schulleiter, Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch viele Politiker sind hier, um zuzuhören und zu lernen". Zu diesem Zeitpunkt war der Forchheimer Rathaussaal mit über 250 Besuchern bereits bis auf den letzten Platz ausgebucht. Sie erlebten eine Aufbruchsstimmung, deren Signalwirkung anhalten dürfte.
Das Renaissance-Fachwerk des 1490 errichteten Rathauses sowie die neugotisch-hölzerne Wandverkleidung und die kunstvollen Holzschnitzereien im Rathaussaal schufen eine einladende Atmosphäre und kündeten zugleich von einer Verbindung aus Tradition und Moderne. Es spricht für die Bildungsregion Forchheim, dass Oberbürgermeister Franz Stumpf der Tagung kostenlos die schönsten historischen Gebäude der Stadt, das Rathaus und die Kaiserpfalz, zur Verfügung gestellt hatte.
Bildungsregion Forchheim - ein Begriff in Bayern
Gerhard Koller, Schulamtsleiter der Region Forchheim und seit langem einer der Schrittmacher moderner Bildungsreformprozesse, machte deutlich, worauf es ankommt: "Wir müssen ein System entwickeln, in dem Kinder und Lehrer gerne zur Schule gehen und das für das Elternhaus als Unterstützung empfunden wird." Nur mit Schulen, die über mehr Zeit verfügen, um den Kindern und Lehrkräften ein Haus des Lernens zu sein, so Koller weiter, sei dies zu erreichen.
"Wenn du entdeckt hast, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab." Alfred Hinz, ehemaliger Schulleiter der Bodenseeschule St. Martin zitierte zum Auftakt der Veranstaltung diese Weisheit der Dakota-Indianer. Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung setzte er alle Hoffnungen auf solche Schulen, die aufgrund ihrer zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Voraussetzungen den individuellen Bedürfnissen der Kinder entgegen kommen. Ziel einer guten Ganztagsschule sei es, eine Balance zwischen kognitiven, handwerklichen, motorischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen herzustellen.
"Entweder wir helfen uns selber, oder uns wird geholfen"
Für Peter Hottaß, den ehemaligen Leiter der Jacob-Ellrod-Schule (JES), einer Ganztagsschule in Trägerschaft der Evangelischen Kirche bildet die Bodenseeschule aufgrund ihres günstigen bürgerlichen Umfelds eine glückliche Ausnahme. Er stellte dementsprechend die Chancen und Probleme einer "durchschnittlichen" Ganztagsschule in den Vordergrund.
Die Geschichte der am nördlichen Rand des Fichtelgebirges gelegenen Jacob-Ellrod-Schule (JES), der es - inzwischen eine der ältesten Ganztagsschulen Bayerns - gelungen ist, sich in höchster Not als Ganztagsschule neu zu erfinden, empfiehlt sich in vielen Aspekten auch zur Nachahmung. Als die damalige Hauptschule in den 1960er Jahren unter schwindenden Schülerzahlen zu leiden hatte, schwebte das Damoklesschwert der Schließung über ihr. So sah sich die evangelische Landeskirche gezwungen die Schule zu schließen, falls es ihr nicht gelinge aus dem Negativtrend auszubrechen: "Es war wirklich ein totes Pferd", so Hottaß.
"Wenn man etwas verändern möchte, muss man sich zusammensetzen. Schulen brauchen dafür aber mehr Autonomie, um Entwicklungen auszuprobieren", so der ehemalige Rektor. "Die Schulleitung muss allen zuhören können, sie miteinander ins Gespräch bringen und gemeinsame Lösungen anstreben."
Die Ganztagsschulentwicklung Bayerns in Zahlen
Auch in Zahlen ausgedrückt hat sich für die Ganztagsschule in Bayern einiges bewegt. Seit dem Jahr 2003 hat das Land aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) rund 700 Ganztagsangebote gefördert. Einen Schwerpunkt bildete der Ausbau der G8-Gymnasien. Dafür hat das Land rund 60 Prozent der Mittel aus dem IZBB-Programm für Ganztagsangebote investiert.
Laut Dr. Christine Modesto vom Kultusministerium gibt es landesweit bereits über 800 Schulen mit offenen Ganztagsangeboten, die sich auf 561 Volksschulen, 136 Realschulen und 176 Gymnasien verteilen. Ferner soll der Schulversuch "Gebundene Ganztagsgrundschule" auf 40 Schulen ausgedehnt werden, während die Anzahl der Ganztagshauptschulen von 62 auf 162 erhöht worden sei. Das Land Bayern stellt dafür zusätzliche Landesinvestitionsmittel bereit.
Lokale Bildungslandschaften als Zugpferde
Neue Maßstäbe für die Bildungsregion möchte der Landkreis Forchheim setzen: "In fünf Jahren sind wir soweit, dass alle Schulen in der Region Ganztagsschule sein werden", erläuterte Schulamtsleiter Gerhard Koller. Bildung müsse ein Grundanliegen der Gemeinden werden. Dieses Engagement hat der Oberbürgermeister der Stadt Forchheim, Franz Stumpf, der nicht nur zuhörte, sondern sich während der Tagung auch vor Ort in Sachen Ganztagsschule fortbildete, bekräftigt: "In den letzen sechs Jahren hat meine Stadt 20 Mio. Euro in die Schulen investiert, um die Räumlichkeiten und ein flächendeckendes Mittagszentrum zu schaffen. Das ist viel für eine Stadt, die Armut gewöhnt ist".
Der notwendige Veränderungsdruck, auf den die Bildungspolitik reagiert, geht laut Koller seit Jahren von der Basis aus. Dass die Schülerinnen und Schüler bei PISA nur Durchschnittsleistungen gezeigt habe, reiche für die Zukunftsfähigkeit der Region nicht aus. Vor diesem Hintergrund wurde die Bürgerinitiative "FORsprung" gegründet. Ihr Ziel ist es, die Bildung in der Region breit zu vernetzen und das lebenslange Lernen zu fördern: "Wir möchten aus Forchheim einen zukunftsträchtigen Innovationsraum machen und ein breites Interesse an Bildung verankern", erklärte der Vorsitzende der Initiative Koller.
Dabei sind die Bildungsregionen gut beraten, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten wie das Beispiel des Landkreises Coburg verdeutlichte. Der oberfränkische Landkreis liegt im ehemaligen "Zonenrandgebiet". Ein Lehrer machte in dem Workshop "Ganztagsschule als Chance für die Entwicklung lokaler Bildungsregionen" darauf aufmerksam, wie sich die wirtschaftlich schwache Region Coburg und seine thüringischen Nachbargemeinden das Leben unnötig schwer machen: "Wir Lehrer in den Schulen müssen viel politischer werden - nicht parteipolitisch -, um für gemeinsame Interesse einzutreten."
"Es gibt in jeder Schule Sternstunden"
Auch die Erziehungswissenschaft war auf der Tagung vertreten: durch Prof. Fritz-Ulrich Kolbe von der Universität Mainz, Prof. Olaf-Axel Burow von der Universität Kassel und Prof. Lars Holm von der dänischen Universität Aahus.
"In jeder Schule gelingt sehr viel! Es gibt die Sternstunden, nur wir schauen nicht darauf", so Burow. Weil rund 60 Prozent aller Lehrerinnen und Lehrer mit schweren Belastungen zu kämpfen hätten, sei ein Ziel der Forschung, Wege aufzuzeigen, die Entlastungen herbeiführen.
Tradierte Steuerungsmodelle von Schule sollten durch solche abgelöst werden, die in der Schule eine lernende Organisation sehen. "Mehrheitsentscheidungen sind weiser als Entscheidungen von Einzelpersonen", so Burow. Ein Open Space als Möglichkeitsraum, Zukunftswerkstätten, die das Denken und Handeln transformieren oder das Konzept der Leadership für die Schulleitung seien erfolgversprechende Ansätze.
Neue Lern- und Lehrkultur oder "Emotionalisierung von Schule"?
Einen kritischeren Ansatz vertrat Fritz-Ulrich Kolbe mit seinen Ausführungen zum Thema "Lernkultur und Unterrichtsentwicklung an Ganztagsschulen". Er präsentierte Ergebnisse eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten empirischen Forschungsprojektes, das er seit 2005 zusammen mit Till-Sebastian Idel sowie Sabine Reh, Kerstin Rabenstein und Doreen Weide durchführt.
Im Mittelpunkt mehrerer Fallstudien vor Ort steht die Frage, wie die Umstellung der Schulen auf den Ganztagsbetrieb das Lernen und Lehren verändert: "In fast allen Ländern dominieren lokale Entwicklungen", so Kolbe zur Ausgangslage der Studie, die mittels problemzentrierter Interviews und Videographien die Lernkultur in Schulen der Länder Brandenburg, Berlin und Rheinland-Pfalz untersucht.
Die Zwischenergebnisse aus der LUGS-Studie ermöglichen unter anderem wichtige Erkenntnisse über das Selbstverständnis der Protagonisten. Anders als die Bildungspolitik, die den Ausbau von Ganztagsschulen mit dem Abschneiden der deutschen Schulen bei PISA begründet, werde dieser Bezug zu PISA von den schulischen Akteuren kaum hergestellt, erläuterte Kolbe. Eher würden viele Akteure die Ganztagsschule im reformpädagogischen Sinne als "Ersatzfamilie" für vernachlässigte Schülerinnen und Schüler verstehen.
Das veränderte Verständnis von Unterricht und Freizeit führe dann zu einer Grenzverschiebung im Sinne einer erweiterten Zuständigkeit für Schule. Kolbe konstatiert zudem eine "Emotionalisierung von Schule" in den letzten Jahren. Das Schülersein werde dadurch zu einer umfassenden Lebensform, was auch Konsequenzen für das Handeln von Lehrern habe.
"Diese Bilder haben eine prägnante Kraft. Ihre Muster und Deutungen sind für den Entwicklungsprozess von Schule prägend", führte Kolbe aus. Die Partikularisierung und Intimisierung von Schule verabschiede sich von der universalistischen Idee von Schule, wonach Lernen und Lehren ein sachbezogener Prozess ist: "Die Schule sollte besser nicht mit diffusen Anforderungen belastet werden", mahnte der Wissenschaftler.
Schule und Elternhaus in Dänemark und Finnland
Lars Holm richtete zunächst einen international vergleichenden Blick auf das Verhältnis von Schule und Eltern. Die Bedeutung des Elternhauses wachse, weil es durch die Gesellschaft für die Biographie der Kinder verantwortlich gemacht werde: "Die wachsende Komplexität der Gesellschaft erfordert differenzierte Ansätze der Bildungspolitik", so Prof. Holm, Erziehungswissenschaftler an der dänischen Universität Aarhus. Als Grundlage seiner empirischen Untersuchungen nutzt Holm ein Modell, das Familie, Schule und Bildungsadministration als Bildungsakteure mit jeweils verschiedenen Interessen sieht, die in einem Kräftefeld handeln.
Das Verhältnis der drei Akteure gestalte sich von Land zu Land, aber auch in der historischen Entwicklung unterschiedlich. Für Frankreich und Deutschland zeige sich traditionell ein starker Einfluss der Bildungsadministration, aber auch der Lehrerorganisationen. In Großbritannien hätten dagegen die lokalen Schulbehörden stets eine eher geringe Rolle gespielt. In Dänemark hätten wiederum Eltern und Schüler schon immer starken Einfluss auf die Schule ausgeübt. Daraus habe sich auch eine traditionell enge Kooperation von Eltern und Schulen entwickelt.
Die Schule sei eine komplexe soziale Institution, die erst durch das Handeln und die Einstellungen verschiedener Akteursgruppen - mit unterschiedlichen Wertesystemen in Bezug auf Schule, Lernen, Sozialisation und Gesellschaft - "hervorgebracht" wird und ihre Form erhält. "School-Home Cooperation", fordere einen Prozess des Aushandelns zwischen Schule und Lehrern, Eltern sowie dem Staat und der Gesetzgebung. Bei seinen ethnographischen Forschungen in dänischen Schulen fand Holm drei Modelle vor: das Lehrer-orientierte Modell, das Community-orientierte Modell und das "Messungs-orientierte" Modell. Jede dieser Orientierungen habe Konsequenzen für die den Eltern zugewiesene Rolle in der Schule-Eltern-Kooperation.
In Finnland sei die Elternmitarbeit selbstverständlich, betonte die finnische Pädagogin Kati Jauhianinen, die in Deutschland lebt und beide Schulsysteme vergleicht. Im Vordergrund stehe in finnischen Schulen das Wohlbefinden der Kinder. Nur die Besten könnten Lehrer werden, jene also, die die Kinder wertschätzen und fachlich hoch kompetent seien: "In Deutschland wird nur der Stoff bedient, nicht die Kinder. Dabei geht viel Energie verloren," so ihre Einschätzung. Liebe, Grenzen, Ehrlichkeit, Mut, dies seien wichtige Grundbausteine der Pädagogik in Finnland.
Investitionen nicht nur für den Straßenbau
Die zahlreichen Impulse, die von dem Forchheimer Kongress ausgingen, kulminierten in einem wahren Paukenschlag in der von Christine Burtscheidt (Süddeutsche Zeitung) moderierten Podiumsdiskussion. Selten wurden die unterschiedlichen bildungspolitischen Standpunkte klarer ausgetragen. Und dennoch war das Bemühen um eine Annäherung deutlich spürbar.
Zunächst bekannte Karl Freller, Kulturstaatssekretär und stellvertretender Vorsitzender der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag: "Die Ganztagsschulen sind in Bayern ins Hintertreffen geraten, weil sie mit den Gesamtschulen in eins gesetzt wurden. Wir sollten die Ganztagsschule nun gemeinsam anschieben." Er forderte die Kommunen und Landespolitiker dazu auf, sich an einem Tisch zu setzen.
Der bildungspolitische Sprecher der SPD, Hans-Ulrich Pfaffmann, warnte davor, den Kommunen weitere Lasten aufzubürden. Vielmehr solle das Land eine Milliarde Euro in die Schulen investieren, um Planstellen für zusätzliches Personal zu schaffen, das der individuellen Förderung zugute komme. Auch Sieghard Schramm vom Bayerischen Städtetag forderte eine bessere Finanzierung für die Ganztagsschulen: "Die Schulen erhalten 35 Prozent Zuschuss, der Straßenbau 85 Prozent - da muss sich was ändern." Der Städtetag trete seit Jahrzehnten für Ganztagsschulen als Ort gemeinsamen Lernens ein.
Die Vorsitzende des Bayerischen Elternverbandes, Isabell Zacharias forderte einen gesetzlichen Rahmen für die Elternvertretung in Bayern. "Bieten Sie allen Schülerinnen und Schülern eine gute Förderung", entgegnete sie Hans-Peter Kempf vom Bayerischen Philologenverband, als dieser das gegliederte Schulsystem verteidigte. Auch Sebastian Nähr von der Landesschülervertretung Bayern forderte eine Schule für alle: "Wir brauchen einen Schritt nach vorne: das ist Fortschritt!", so der Schüler.
Von der konstruktiven Streitkultur zum "Groove"
Wenige Tage vor den Kommunalwahlen in Bayern wurde deutlich, dass es in der Diskussion um mehr ging, als um Ganztagsschulen. Welche Bedeutung mittlerweile Bildungsfragen in der Öffentlichkeit haben, zeigte nicht nur die aufgeladene Debatte auf dem Podium, sondern auch die mitgehenden Reaktionen der Lehrerinnen, Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter im bis zum Schluss vollbesetzten Rathaussaal.
Zum Abschluss eines denkwürdigen Kongresses sah Olaf-Axel Burow ein Phänomen, das man in der Popmusik als "Groove" bezeichnet: "Der Groove entsteht aus Schwingungen, aber man weiß nicht: ist es die Band oder alle zusammen, die ihn erzeugen."
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