9. Ganztagsschulkongress: Trommeln für Vielfalt : Datum: Autor: Autor/in: Inge Michels
Seit Wochen war er ausgebucht, der 9. Ganztagsschulkongress 2012, veranstaltet vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Kultusministerkonferenz und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Das Thema: "Bildung für mehr! Ganztagsschule der Vielfalt". 1.200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen sich Ende September in Berlin, um zwei Tage in ein dichtes Programm aus Vorträgen, Interviews, Workshops und Gesprächen einzutauchen.
Trommeln für Vielfalt. Das taten die Mädchen der Deutsch-Portugiesischen Europaschule „Neues Tor“, Berlin, nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes leidenschaftlich auf der Bühne, das könnte auch der heimliche Titel des Kongresses sein. Denn für etwas trommeln - also sich einsetzen, werben, aufrufen, ermuntern – wollten alle, die zu Eröffnung des bis auf den letzten Platz besetzten Berliner Congress Centrums auf der Bühne standen.
Dabei trafen laute Töne auf leise, verhaltene Worte auf impulsive, Emotionen auf Fakten. Eine klare, faktenreiche Sprache fand die Staatssekretärin aus dem Bundesbildungsministerium Cornelia Quennet-Thielen. Sie erinnerte an den vor zehn Jahren gestarteten Ausbau der Schulen zu solchen mit Ganztagsangeboten. „Wer hätte gedacht, dass heute, im Jahr 2012, jede zweite Schule in Deutschland ein Ganztagsangebot vorhält“, fragte sie das Plenum. Allen einstigen Unkenrufen zum Trotz sei Deutschland auf dem Weg zu einem Land der Ganztagsschulen.
Lehrer haben eine Schlüsselfunktion
Dieser Weg ist noch nicht zu Ende. Doch gehe es nun, so die Staatssekretärin insbesondere um die Entwicklung der Qualität. „Wir stecken viel Geld in die begleitende Forschung“, informierte sie und kündigte an, gemeinsam mit den Ländern an inhaltlichen Schwerpunkten zu arbeiten. Einige Themen, die in ihrem Vortrag genannt wurden:
- Die Lehrerbildung soll in den Mittelpunkt der Hochschulen rücken.
- Die Fachwissenschaften innerhalb der Lehrerausbildung sollen stärker zusammenarbeiten.
- Die Länder sollen die jeweiligen Abschlüsse gegenseitig anerkennen.
- Der Umgang mit Heterogenität soll stärker in die Ausbildung integriert werden, ebenso der Förderschwerpunkt Sprachförderung.
„Lehrer“, so warb Cornelia Quennet-Thielen schließlich für deren Beruf, „haben eine Schlüsselfunktion mit gesellschaftlicher Wirkung.“
Ganztag – „das wichtigste Thema der Schulpolitik“
Da passte es gut, dass die nachfolgende Person am Mikrofon selbst einmal Lehrer war: Ties Rabe, Präsident der Kultusministerkonferenz und Bildungssenator der Stadt Hamburg. Ganz seiner einstigen Profession verpflichtet warf er nicht nur einen Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre, sondern erinnerte an den großen Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt. Dessen Impulse für eine Allgemeinbildung für alle Bürger entfachten, so Rabe, eine ähnliche Bildungsreform wie der PISA-Schock und der nicht mehr zu überhörende Ruf nach Inklusion und Vielfalt. Ganztagsschulen sind „seit PISA“, davon zeigte sich der Senator überzeugt, „das wichtigste Thema der Schulpolitik.“ Und: Schulen würden sich seitdem zu einer „Heimat für alle Schülerinnen und Schüler“ entwickeln.
Gleichwohl plädierte er dafür, Zweifel und Kritik auszuhalten. Insbesondere Eltern müssten mitgenommen werden, wenn es darum gehe, Halbtagsschulen in Ganztagsschulen umzuwandeln; umso mehr, wenn es um die Umwandlung in einen gebundenen Ganztag gehe. Bei der Diskussion darüber, welches die bessere Ganztagsschule sei – gebunden oder offen – erinnerte Ties Rabe an die Diskussion um die verlässliche Halbtagsgrundschule, die ebenfalls vielen Eltern zunächst ein Dorn im Auge gewesen sei. Doch wenige Jahre später könne sich zumindest in Hamburg keiner mehr vorstellen, dass Grundschulkinder, kaum seien sie aus dem Haus, überraschend wegen Unterrichtsausfall wieder vor der Haustür stünden.
Was ist normal?
War bisher schon jede Rede des Eröffnungsprogramms, lebendig moderiert von Julia Sen vom Norddeutschen Rundfunk, aufmerksam verfolgt und immer wieder mit Beifall bedacht worden, so setzte Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und somit Mit-Veranstalterin des Kongresses einen persönlichen und nachdenklichen Schlusspunkt. Sie warf mit Blick auf das Thema des Kongresses, Vielfalt, die Frage auf: „Was ist eigentlich normal?“ Und: „Ist die Abweichung von der Norm nicht eigentlich normal?“ Zweifel und Umwege zulassen, Fehler ermöglichen, Widersprüche aushalten – das seien Herausforderungen, die weiter führten, zeigte sich die einstige erfolgreiche Leistungssportlerin überzeugt.
Sie holte die Bilder der vor wenigen Tagen zu Ende gegangenen Paralympics noch einmal in Erinnerung und sprach davon, gerade Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, ein „Bewusstsein ihres eigenen Könnens“ zu entwickeln. Dies auch vor dem Hintergrund, dass Menschen, die nicht dazu gehören dürften, Gründe suchten und fänden, letztendlich nicht dazugehören zu wollen. Sie fänden Sicherheit in der Abgrenzung, so die Geschäftsführerin. „Paradoxien und Widersprüche sind dagegen Elemente von Veränderung“, hielt sie fest.