9. Ganztagsschulkongress: "Neue Begegnungsformate" : Datum: Autor: Autor/in: Inge Michels

Wenn hochqualifizierte Referentinnen auf kundige und gleichsam wissbegierige Zuhörer treffen, ist der Erfolg gewiss. Zwei Beispiele dafür sind die Vorträge der Professorinnen Dr. Annedore Prengel und Dr. Silvia-Iris Beutel.

Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel hält einen Vortrag
Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel © Piero Chiussi

Konzentrierte Stille herrschte im Kuppelsaal des berliner congress centers, als Prof. Dr. Annedore Prengel an das Mikrofon trat. Die „Grande Dame“ der Pädagogik der Vielfalt hätte sich selbst nicht träumen lassen, dass ihre Konzepte und Gedanken - aufgeschrieben in ihrem Buch „Pädagogik der Vielfalt“ (1993), für dessen Manuskript sie seinerzeit intensiv werben musste - fast 20 Jahre später immer noch im Rampenlicht von politischen und pädagogischen Diskussionen stehen würden.

Ganz Hochschulprofessorin (seit diesem Jahr emeritiert), führte sie das Plenum in ihrem strukturierten Vortrag in die Komplexität einer Pädagogik der Vielfalt ein. „Es wird nicht langweilig“, versprach sie. Zurecht, denn kaum einer der vielen Zuhörerinnen und Zuhörer verließ den Kuppelsaal vor Ende der 50minütigen „Vorlesung“. Und um von Anfang an klar zu stellen, was sich hinter Vielfalt und Heterogenität an sinnlichen Ausdrucksformen verbirgt, ließ Annedore Prengel Bilder sprechen, Bilder von Patchworkarbeiten, Kaleidoskopen und – und und schillernd – der Biodiversität von Korallenriffen.

Anerkennung der Gleichheit aller Kinder

Wie aber kommen Pädagoginnen und Pädagogen dahin, Vielfalt zu schätzen und anzuerkennen, statt sie zu bewerten und zu sortieren? Zwei Perspektiven müssen ineinander greifen, führte die Professorin aus: Die Anerkennung der Gleichheit aller Kinder in dem Sinne, dass alle Kinder gleich sind im Hinblick auf ihre Bedürfnisse und  Rechte, z. B. der Rechte auf Bildung, und die Anerkennung ihrer Heterogenität. Heterogenität wiederum meint seinem griechischen  Wortursprung nach eine Bedeutung von Verschiedenheit, bei der das eine dem anderen nicht unter- oder übergeordnet ist.

Aussagen über Kinder sind nur vorübergehend

„Wir müssen immer den Prozess im Auge behalten. Aussagen über Kinder können nur vorläufige Arbeitshypothesen sein.“ Mit dieser Aussage gestand sie den pädagogischen Professionen durchaus notwendige Kategorien zur Erarbeitung von Konzepten zu. Auch Statistik komme nicht ohne „Schubladen“ aus. Dennoch könne das „Wissen um die Begrenztheit von Kategorien“ aufrecht erhalten werden, erst recht bei der Aufmerksamkeit für jeden Einzelfall. Dem kreativen Eigensinn von Kindern Raum zu geben, zeigte sich die einstige Lehrerin überzeugt, ließe sich im Alltag umsetzen, auch wenn die Theorie selbst nicht ohne Zuordnungen auskomme.

 „Ohne Angst verschieden sein zu können“, griff Prengel auf einen berühmten Satz von Theodor Adorno zurück – das müsse handlungsleitend sein für eine Schule der Vielfalt. Und so verwunderte es sicher niemandem im Plenum, dass die Erziehungswissenschaftlerin sich eindringlich für ein Haus des Lernens für alle Kinder bis 16 Jahre aussprach. Ein solches Haus des Lernen, argumentierte sie, aktuelle politische Debatten aufgreifend, stifte Zusammenhalt in pädagogischen Gesellschaften, wirke dem Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen entgegen.

Ganztagsschulen: großes Repertoire

Dennoch: Lehrerinnen und Lehrer könnten in jeder Schule beginnen, sich einer Pädagogik der Vielfalt anzunähern, insbesondere in Ganztagsschulen. Pädagogik der Vielfalt brauche Zeit und Platz für Beziehungen; sowohl für Beziehungen innerhalb der Peergroups, als auch zwischen Pädagogen und Schülern. Dafür verfügten Ganztagsschulen über ein großes Repertoire an Ressourcen. Jedoch solle man vermeiden, den Ganztag zu teilen in „Vormittags die Pflicht und Nachmittags die Kür“. Und was die Umsetzung von Vielfalt in der Didaktik betrifft: Die zielgerichtete Vermittlung von Kulturtechniken solle sich Kompetenzrastern und darauf abgestimmter Materialien bedienen. In diesem Zusammenhang erlaubte sich die renommierte Wissenschaftlerin einen Hinweis an die Verlage: Noch sei zu wenig Unterrichtsmaterial auf dem Markt, das einer Pädagogik der Vielfalt entspreche.    

Was machen viele Schulen anders?

Andere Zeit, anderer Ort auf dem 9. Ganztagsschulkongress in Berlin: Gespickt mit Fotos, Beispielen und Geschichten referierte Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel zum Thema „Kinder und Jugendliche stärken: Zum Wechselspiel von Lernkultur und demokratischer Leistungsbeurteilung“. Was schnell allzu theoretisch und abstrakt hätte anmuten können, geriet zu einem dynamischen Spaziergang durch einen Markt der Möglichkeiten.Was machen Schulen anders, die sich den Umgang mit Heterogenität auf die Fahnen geschrieben haben, die in demokratischen Strukturen und Lernformaten nach Möglichkeiten suchen, jedem Kind gerecht zu werden? Sie wenden sich – nicht nur, aber gezielter – neuen Formaten zu.

Zeit für Neugier, Muße, Begegnung und Dialog, darum geht es nach den Worten der Professorin, die an der Technischen Universität Dortmund das Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik leitet. Bei ihren Schulbesuchen entdeckte sie abseits der üblichen Unterrichtsstunden Lernumgebungen, die das Kind als Entdecker seiner Möglichkeiten und Interessen in den Mittelpunkt des Lernens stellen. Wie das geht? Dazu tragen zum Beispiel Lernlandkarten und Lerntagebücher bei, die von Kindern selbst angelegt und gepflegt werden.

Blaues Meer und grüne Kompetenz-Inseln

Deren Vorteile liegen für die Schulpädagogin auf der Hand: Die Kinder visualisieren ihre Lernthemen – sie malen zum Beispiel ein Meer, in dem die zu erlangenden Kompetenzen als grüne Inseln schwimmen und konkret benannt werden. So erkennen sie recht schnell, wie weit sie auf dem Weg zu einem Lernziel bereits gekommen sind. Ihr Lernweg wird so transparent und für sie selbst verantwortbar. Solche Visualisierungen helfen aber auch den Lehrerinnen und Lehrern, auf einen Blick zu erkennen, wo jedes Kind steht. Ein Dialog über das Erreichte oder noch nicht Erreichte ist so leicht und fast beiläufig hergestellt.

Muße! Kein Nebenprodukt von Bildung

Apropos Dialog: „Die emotionale und soziale Seite von Unterricht ist kein Nebenprodukt. In den Schulen, die ich besucht habe, werden sie gezielt kultiviert“, betont die Professorin. Ebenso sind „Vertiefung, Muße und Nähe kein Nebenprodukt von Bildung“, führt sie weiter aus. Gerade die Wahrnehmung von Verschiedenheit und ihre sensiblen Begleitung gelinge, wenn ausreichend Zeit für Begegnung bleibt. Schließlich könne es heute nicht mehr um schnell verwertbares Wissen gehen, um „Bildungs-Fastfood“ sozusagen. Stattdessen seien Räume und Umgebungen gefragt, die den Faktor Zeit zur Vertiefung von Lernen und zur Berücksichtigung unterschiedlicher Lernwege und Lerntypen berücksichtigten.

Kinder auf Sitzsäcken erzählend, lesend auf dem Boden, an Studiertischen grübelnd, neugierig forschend an Experimentierstationen – es sind Bilder von anregenden Lernumgebungen, die die Referentin in ihrer Powerpoint-Präsentation zeigte. Auch dies setzte sie in Bezug zu ihrem Thema Demokratie. Mehr Beteiligung, Mitbestimmung, Anreiz und Anregung führten dazu, dass Kinder sich für ihr Lernen und ihre Lernfortschritte selbst verantwortlich fühlen. Und so liegt die Schlussfolgerung nahe: Was auf manchen so aufwendig wirkt,schafft in Wirklichkeit Entlastung für Lehrkräfte.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000