Ein Tag im Leben eines Schulleiters: Uwe Bettscheider : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

„Probier’s mal aus“, sagte sich der promovierte Mathematik-Didaktiker, als er Schulleiter wurde. Heute ist für Dr. Uwe Bettscheider die Schulentwicklung des Ritzefeld-Gymnasiums der Kern seiner Tätigkeit.

Online-Redaktion: Herr Dr. Bettscheider, wie sah Ihr gestriger Tag am Ritzefeld-Gymnasium aus?

Uwe Bettscheider: Jeder Tag beginnt damit, dass ich erstmal meine E-Mails abarbeite. Wenn ich konzentriert arbeite, bin ich damit zur ersten großen Pause fertig. Dann kann ich ins Lehrerzimmer gehen, um mit Kolleginnen und Kollegen zu reden, um zu wissen, was läuft. Zurzeit finden solche Gespräche über unser Videokonferenztool statt. Momentan muss ich immer abwägen, wie viel Zeit ich der Elternarbeit und wie viel Zeit ich Kolleginnen und Kollegen widme. Gestern ist es zum Beispiel dringend notwendig gewesen, dass ich die Eltern zum Stand der Einführung von E-Books informiere, dazu waren immer wieder Nachfragen gekommen. Zunächst musste ich mich selbst informieren, wie der Stand ist, denn den Prozess hatte ich delegiert und musste nun sichten, was die Projektgruppe erarbeitet hat. Daneben habe ich Administrator-Zugänge besorgt und die E-Books dann bestellt. Damit ist man schon eine Weile beschäftigt.

Ritzefeld-Gymnasium
„Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf die Welt von morgen vorbereiten.“ © Ritzefeld-Gymnasium

Zusätzlich habe ich mich um die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des nächsten Fortbildungstags gekümmert. Wir haben vom Land 1.000 Euro und einen Pädagogischen Tag für das Thema Digitalisierung erhalten. Als Informatiklehrer habe ich nebenbei die Rolle des Netzwerkadministrators, und gestern Nachmittag habe ich längere Zeit gebraucht, um ein Verfahren und Formulare für die Ausleihe von Laptops zu entwickeln und umzusetzen. Ständig klingelt natürlich das Telefon, es kommt jemand rein und hat eine Frage, oder es geht um Unterrichtsvertretung. Ich habe mit dem Schulverwaltungsamt telefoniert, weil wir der Bestellung einer Druckerpresse hinterherlaufen. Dann habe ich mich mit unserer Ganztagsschulkoordinatorin getroffen, um über Budgetfragen und die Angebote in diesem Schuljahr zu reden.

Dann hatte ich ein Kooperationsgespräch mit dem Schulleiter einer benachbarten Förderschule über einen unserer Fünftklässler – wir versuchen da viel auf dem kleinen Dienstweg zu regeln. Und zwei Stunden Unterricht per Lernplattform und Video hatte ich auch noch. Das war das Schönste, mein Unterricht ist für mich Entspannung und Hobby.

Online-Redaktion: Wie lange dauert Ihr Arbeitstag?

Bettscheider: Ich bin meistens um 7.30 Uhr hier, und wenn ich mal an einem Tag um 16 Uhr rauskomme, ist das für mich wie Urlaub. Manchmal wird es 19 Uhr. In der Regel versuche ich aber, ich muss ja auch bis zur Rente durchhalten, meinen Arbeitstag um 17 Uhr zu beenden. Die Abendtermine entfallen ja momentan zum Glück...

Online-Redaktion: Delegieren Sie viel, oder entscheiden Sie eher alleine?

Bettscheider: Natürlich beziehe ich meine Kolleginnen und Kollegen ein. Zum Beispiel treffe ich mich einmal in der Woche mit den fünf Mitgliedern des Lehrerrats. Momentan müssen häufiger Ad-hoc-Entscheidungen getroffen werden. Außerhalb von Krisenzeiten dauert es länger, bis Entschlüsse gefallen sind, weil ich auch einmal im Monat die Meinungen der Elternvertreter einhole. Damit ich nicht Gefahr laufe, hier momentan zu selbstständig zu agieren, führe ich alle zwei Wochen ein Videogespräch mit unserem Schulpflegschaftsvorstand. Da sind dann auch mal schnell zwei Stunden weg. Aber das erspart mir viel Arbeit, weil wir vieles klären und ich den vier Mitgliedern erläutern kann, was gerade warum wie läuft, zum Beispiel warum Unterricht ausfällt. Kommunikation ist mein Hauptgeschäft. Aber ich kann auch nicht nur kommunizieren – dann käme ich zu nichts anderem mehr. Man muss Prioritäten setzen, sonst ertrinkt man.

Online-Redaktion: Warum sind Sie Schulleiter geworden?

Bettscheider: Eigentlich aus Versehen. Ich bin promovierter Mathematik-Didaktiker und wollte Fachleiter für Mathematik werden. Nach viereinhalb Jahren wurde mir empfohlen, mich als stellvertretender Schulleiter am Inda-Gymnasium Aachen zu bewerben. Ich habe mir gesagt: „Probier's mal aus“. Dann habe mich mehrmals mit der Schulleiterin getroffen. Das fand ich so angenehm, spannend und interessant, dass ich mich beworben und im Jahr 2001 die Stelle bekommen habe. Meine Schulleiterin hat mir dann über die Jahre viel Zeit eingeräumt, Schulentwicklung zu betreiben und die Schule mit zu leiten. Von ihr habe ich gelernt, dass Schulleitung heißt, gestalten zu wollen. Ich habe an einer Schulleiterqualifizierung teilgenommen, die damals noch zwei Jahre dauerte und bei der tolle Referentinnen und Referenten eingesetzt waren. Dann bekam ich die Möglichkeit, in Bonn meine erste Schulleitungsstelle zu übernehmen.

Lernwerkstatt Chemie
Lernwerkstatt Chemie © Ritzefeld-Gymnasium

Online-Redaktion: Welche Aspekte Ihrer Arbeit mögen Sie am meisten?

Bettscheider: Wie schon gesagt, mag ich das Unterrichten. Aber genau genommen gehört das ja nicht zu den Schulleitungsaufgaben. Als Schulleiter bereitet mir all das Freude, was mit Schulentwicklung zu tun hat: gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen unsere Ideen zu diskutieren und zu implementieren. Ich kommuniziere gerne, ansonsten wäre ich auf diesem Posten auch fehl am Platze.

Online-Redaktion: Was stresst Sie?

Bettscheider: Stressig sind Diskussionen über Dinge, die man sowieso nicht ändern kann. Manchmal sind sie trotzdem nötig. Stressig sind auch unnötige und komplizierte Prozesse im Verwaltungsbereich. Wenn es ewig dauert, bis ein Vertrag kommt, zum Beispiel. Das liegt nicht daran, dass dort nicht Menschen ihr Bestes versuchen, sondern daran, dass sie total unterbesetzt und Prozesse oft aufwändig sind. Das dauert und dauert, und hier fällt Unterricht aus. Oder Bestellungen für den MINT-Bereich bleiben über Monate aus. Wir haben schon dreimal neue Angebote einholen müssen. An meiner alten Schule musste ich fünf Monate um Steckdosen für unser WLAN-Netz kämpfen. Normalerweise hätte ich den Elektriker von nebenan beauftragt, das hätte auch wesentlich weniger gekostet. Denn in der Stadtverwaltung waren sehr viele Angestellte mit dieser Frage beschäftigt, am Ende hätten wir dafür goldene Steckdosen bekommen können. Oft hat man zu viele offene Fäden in der Hand.

Wir haben hier das Glück, dass wir mit konstruktiven und hilfreichen Menschen zu tun haben. Aber es kann doch nicht sein, dass ein System davon abhängig ist, dass da zufällig mal einer sitzt, der mehr als 100 Prozent gibt. Die Organisation hinkt der Realität hinterher. Die Digitalisierung ist hier das augenfälligste Beispiel.

Online-Redaktion: Haben sich in Ihrer Zeit als Schulleiter die Aufgaben von Schulen verändert?

Bettscheider: Die Ansprüche an Schulen sind deutlich höher geworden. Die pädagogischen Herausforderungen für die Lehrkräfte haben sich erhöht, und der Aufgabenumfang wird immer mehr ausgeweitet. Lehrerinnen und Lehrer haben – auch aus gutem Grund – einen Teil ihrer Unabhängigkeit verloren, sie müssen heutzutage viel mehr zusammenarbeiten. Was dabei nicht schlecht ist: Die Anforderung an die Qualität ist auch größer geworden. In den 1990er Jahren war es deutlich mehr als heute vom Zufall abhängig, ob ein Schüler guten Unterricht erhalten hat. Heute achten wir viel mehr auf die Qualität.

Für die Schulleitung, und das finde ich positiv, sind auch mehr Aufgaben hinzugekommen, wie beispielsweise Budgetfragen und Beförderungsverfahren. Vor 30 Jahren konnte ein Schulleiter schon zum Ende der Sommerferien anfangen, seine Abiturrede zu schreiben. Natürlich gab es immer Schulleitungen, die Schulentwicklung betrieben haben – aber es war eben vom individuellen Engagement abhängig. Als ich vor drei Jahren hier am Ritzefeld-Gymnasium als Schulleiter anfing, habe ich alle Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht besucht. Verändert hat sich in den vergangenen 20 Jahren auch, dass neue Stellen ausgeschrieben werden und ich über Einstellungsgespräche passgenau neue Kolleginnen und Kollegen suchen kann. Das ist eine sehr positive Entwicklung.

Model United Tag
Model United Nations 2019 in Nijmegen (Niederlande) © Ritzefeld-Gymnasium

Online-Redaktion: Das Ritzefeld-Gymnasium hat einen MINT-Schwerpunkt. Was hat sich da am sichtbarsten verändert?

Bettscheider: Sicherlich der Grad der Digitalisierung. Vor dreieinhalb Jahren, das kann ich als Informatiklehrer und Netzwerkadministrator sagen, war unsere Schule eine digitale Wüste. Wäre damals ein Lockdown gekommen, hätten wir ein echtes Problem gehabt. Es gab nur ein selbstgestricktes WLAN-Netz, das mehr oder weniger funktioniert hat. Aber vor zweieinhalb Jahren hat die Stadt Stolberg vorausschauend einen Sonderhaushalt für Digitalisierung beschlossen. Die Schulen wurden mit einer Gesamtsumme von jährlich 300.000 Euro für die digitale Ausstattung unterstützt.

Wir haben als erste Schule alle Lehrkräfte mit einem Laptop ausgestattet, sind mit einem Datendienstleister eine Kooperation eingegangen, und jetzt sind wir Cloud-Pilotschule. Durch das Schul-Cloud-Projekt haben wir auch unsere Lernplattform „MNSProCloud“ erhalten, die wir nun immer weiterentwickeln. Zumindest was diesen Bereich angeht, konnte Corona kommen, und wir können uns jetzt den pädagogischen Fragen der Digitalisierung zuwenden, wie auf dem Pädagogischen Tag, von dem ich sprach. Selbst im Lockdown wird bei uns nun Unterricht nach Stundenplan durchgeführt. Schülerinnen und Schüler, die zu Hause keinen Laptop haben, können sich einen leihen. Wer kein Internet zu Hause hat, kann bei uns in der Schule im Selbstlernzentrum unter Aufsicht am Online-Unterricht teilnehmen.

Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat die Ganztagsschule für Sie?

Bettscheider: Ganztagsschulen sind wichtiger geworden, unter anderem, weil die sozialen Kontakte der Kinder und Jugendlichen außerhalb der Schule abgenommen haben. Soziales Lernen fand früher auf der Straße oder in Vereinen statt. Heute bewegen sich die Schülerinnen und Schüler zunehmend in der virtuellen Welt. Sie lernen deshalb zum Beispiel immer weniger, mit Konflikten umzugehen. An unserem Gymnasium wird es selbst mit unserem „Ganztag light“ mit nur drei Nachmittagen in der Woche immer wichtiger, Raum und Anlässe für soziales Lernen zu bieten.

Auch eine Ganztagsschule kann den Bildungshintergrund des Elternhauses nicht vollständig kompensieren. Da würde man sich in die Tasche lügen, wenn man das von sich behauptet. Aber als Ganztagsschule haben wir viel mehr Möglichkeiten, dieses Ziel anzustreben. Wir können den Schülerinnen und Schüler mehr Bildungsangebote machen. Bei uns gibt es zum Beispiel immer Förderangebote für leistungsstarke und für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler gleichermaßen.

Digitale Tafel
Digitales Lernen umgekehrt: Die Lehrerin schaltet sich ins Klassenzimmer zu. © Ritzefeld-Gymnasium

Online-Redaktion: Wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Schulleiter zusammenfassen?

Bettscheider: Am wichtigsten ist, dass man sich klarmacht, dass man im Grunde seinen Beruf gewechselt hat. Ich bin nicht mehr Lehrer, ich bin Schulleiter. Wer in der Rolle des Lehrers oder der Lehrerin verharrt, kann aus meiner Sicht eine Schule nur verwalten, nicht führen. Als Schulleitung besteht meine Aufgabe nicht nur darin, Alltagsprozesse zu managen, sondern die Schule so zu entwickeln, dass sie die Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf die Welt von morgen vorbereitet. Das kann ich nicht alleine, sondern ich brauche dafür eine breite Basis im Kollegium.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

In der Reihe „Ein Tag im Leben eines Schulleiters“ berichten auf www.ganztagsschulen.org seit 2006 regelmäßig Schulleiterinnen und Schuleiter von Ganztagsschulen verschiedener Schularten und Regionen von ihrem Alltag. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Schulleitung und Schulmanagement“.

 

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