„Wir favorisieren gebundene Ganztagsschulen“ : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow
Die Landesverbände des Ganztagsschulverbandes setzen sich für die Qualität der Ganztagsangebote ein. Eva Reiter, Landesvorsitzende in Hamburg und zugleich Vorsitzende des Bundesverbands, im Interview.
Seit vier Jahren ist Eva Reiter Landesvorsitzende des Ganztagsschulverbands Hamburg, seit zwei Jahren außerdem Vorsitzende des Bundesverbands. In ihrer Funktion als Bundesvorsitzende hält sie die Hansestadt für ein Vorbild in Sachen Ganztag, als Landesvorsitzende dagegen sieht sie an einigen Stellen durchaus noch Verbesserungsbedarf. Der Landesverband Hamburg hat zurzeit 83 Mitglieder.
Online-Redaktion: Frau Reiter, Sie sind nicht nur Landes- und Bundesvorsitzende des Ganztagsschulverbands, sondern auch Lehrerin an einer Hamburger Ganztagsschule und seit 2008 dort Ganztagskoordinatorin. Woher kommt Ihr großes Interesse am Ganztag?
Eva Reiter: Ich brenne einfach für dieses Thema. Das Interesse war schon da, bevor meine Schule, die Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg, 2005 gebundene beziehungsweise teilgebundene Ganztagsschule wurde. Früher waren viele Kinder und Jugendliche in unserem einkommensschwachen Stadtteil nachmittags meist unbetreut. Zwar gibt es auf dem Dulsberg unterschiedliche Sportvereine und ein Haus der Jugend, doch dort kamen viele oft gar nicht an. Das wurde auch im Elternhaus nicht gefördert. Mit Einführung des Ganztags änderte sich das, wir kooperieren heute mit vielen Stadtteileinrichtungen. Mein Interesse ist vor allem, dass die Kinder und Jugendlichen am Nachmittag sinnvoll beschäftigt werden. Und sich wohlfühlen, denn die Schülerinnen und Schüler verbringen ja sehr viel Zeit im Ganztag.
Online-Redaktion: In Hamburg nehmen knapp 87 Prozent aller Schülerinnen und Schüler der staatlichen Schulen am Ganztag teil, mit diesem Wert liegt die Hansestadt deutschlandweit an der Spitze. Wie kann der Ganztagsschulverband noch weiter unterstützen, worin sehen Sie als Landesvorsitzende Ihre Hauptaufgaben?
Reiter: Da in Hamburg mittlerweile alle Schulen Ganztagsangebote haben, müssen wir uns im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht mehr mit dem Rechtsanspruch – der besteht in Hamburg seit 2012 – auseinandersetzen, sondern können uns voll und ganz auf die inhaltliche, qualitative Ausrichtung konzentrieren. Hamburg ist an vielen Stellen schon sehr weit: Der Ganztag ist flächendeckend eingeführt, es gibt einen Ganztagsausschuss an Schulen und ein Netzwerk der Ganztagskoordinatoren in der Stadt. Von solch einem Austausch träumen manche andere Bundesländer. Verschiedene Gremien beschäftigen sich mit dem Ganztag, es gibt Qualitätsforen. Ebenso haben wir eine Rand- und Ferienbetreuung, was längst nicht alle Bundesländer anbieten. Doch es gibt auch noch einiges zu tun, vor allem in qualitativer Hinsicht.
Online-Redaktion: Was denn zum Beispiel?
Reiter: Beispielsweise hapert es an vielen Schulen noch an der Verzahnung des Vor- und Nachmittags, also des Unterrichts mit den außerunterrichtlichen Angeboten. Diese Verzahnung ist an gebundenen oder teilgebundenen Ganztagsschulen nach Rahmenkonzept, dem sogenannten GTS-Modell, schon möglich und auch oft erreicht. Deshalb favorisieren wir als Ganztagsschulverband dieses Modell. Die Schule ist hier allein verantwortlich für das, was ganztägig geschieht. GTS-Schulen werden zwar häufig von einem Jugendhilfeträger oder anderen Kooperationspartnern unterstützt, die pädagogische Ausrichtung bleibt jedoch bei der Schule. An diesen gebundenen oder teilgebundenen Ganztagsschulen sind die Kinder verpflichtet, an festgelegten Tagen am Ganztagsprogramm von 8 bis 16 Uhr teilzunehmen.
In Hamburg gibt es noch ein anderes Ganztags-Modell, das GBS-Modell, die „Ganztägige Bildung und Betreuung an Schulen“, bei der Schulen und Jugendhilfeträger kooperieren. Hier findet vormittags ganz normaler Unterricht nach Stundentafel statt, nachmittags gibt es dann Angebote durch einen Jugendhilfeträger.
Online-Redaktion: Warum sprechen Sie sich für gebundene Ganztagsmodelle aus?
Reiter: Weil sich hier Unterricht, Freizeitangebote und besondere Kurse über den Tag abwechseln können. Ich nenne das eine „kinderfreundliche Rhythmisierung“ des Ganztags. Alles bleibt in der Hand des schulischen Personals, die Kinder müssen sich nicht auf unterschiedliche Bezugspersonen einstellen, also vormittags auf die Lehrkräfte und nachmittags auf die Mitarbeitenden des Kooperationspartners. Aber natürlich gibt es in Hamburg auch viele GBS-Schulen, in denen die Verzahnung von Vor- und Nachmittag gut funktioniert. Hier kommt es auf eine gute Übergabe und Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften vom Vormittag und dem Personal am Nachmittag an. Doch dafür braucht es Zeit!
Online-Redaktion: Frau Reiter, Sie haben vor Jahren einmal den provokanten Satz gesagt, wir seien „vielerorts auf dem Weg in eine Betreuungspolitik“. Würden Sie das noch stehen lassen?
Reiter: Das würde ich auf Landesebene sowieso nicht sagen, das bezog sich damals auf die Befürchtung des Bundesverbandes, die Qualität würde bei der Umsetzung einer reinen Ganztagsbetreuung auf der Strecke bleiben. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir Freiräume schaffen müssen für freies Spiel, für ungelenkte Phasen, in denen die Kinder sich entspannen und entfalten können. Ich meine das im Gegensatz zur ungelenkten Betreuung, bei der ein Betreuer bildlich gesprochen mit baumelnden Beinen herumsitzt, quasi nur als Aufsicht, ohne sich mit dem Kind zu befassen. Ich finde, man sollte diese Freiräume bewusst gestalten, sich mit den Kindern beschäftigen, anstatt sie eben nur zu betreuen.
Online-Redaktion: Welche Qualitätsmerkmale zeichnen einen guten Ganztag außerdem aus?
Reiter: Wichtig ist – neben der Verzahnung von Vor- und Nachmittag und einer kindgerechten Rhythmisierung – natürlich eine gute personelle, räumliche und sächliche Ausstattung von Ganztagsschulen. So ist eine kleine Gruppengröße zum Beispiel kein Muss, denn auch ein großer Sportkurs kann gut funktionieren, wenn nur die Bezugsperson den ganzen Tag die gleiche ist.
In räumlicher Hinsicht ist beispielsweise ein multifunktionaler Klassenraum für Ganztagsangebote in Ordnung, aber Kinder brauchen auch Ruheräume, Tobe- und Spieleräume. Und bezüglich der sächlichen Ausstattung ist es am wichtigsten, dass die Angebote für Schülerinnen und Schüler kostenfrei sind und trotzdem eine gute Ausstattung vorhanden ist. Darüber hinaus ist die Einbindung der Schule in den Stadtteil enorm wichtig.
Online-Redaktion: Warum ist das bedeutsam für die Qualität einer Ganztagsschule?
Reiter: In den meisten Stadtteilen gibt es Sportvereine, Bibliotheken, Häuser der Jugend, Kultur- und Geschichtswerkstätten – alles wertvolle Institutionen. Es macht deshalb Sinn, sich die Expertinnen und Experten von dort in die Schule zu holen, und zwar auch vor 16 Uhr. An meiner Schule machen wir das. Wir haben das Glück, dass wir beispielsweise die Jugendmusikschule, das Lesehaus und den Sportverein SV Alter Teichweg Hamburg direkt im Haus haben und für Kursangebote einladen können. Insgesamt kooperieren wir mit über 30 Partnern aus ganz Hamburg. Das bereichert nicht nur uns als Schule, sondern auch die Institutionen.
Online-Redaktion: Frau Reiter, Sie sind Ganztagskoordinatorin an Ihrer Schule. Wie wichtig ist diese Funktion?
Reiter: Jede Schule sollte eine Ganztagskoordinatorin oder einen Ganztagskoordinator haben, am besten mit fester Stundenzuteilung je nach Größe und sozialer Lage der Schule. Einzelne Funktionsstunden reichen oft nicht aus. Die Besetzung dieser Funktionsstelle ist auch ein Zeichen für die Wertigkeit. Sie zeigt, wie der Ganztag in einer Schule angesehen wird. Und hier möchte ich noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen, der für einen qualitativ guten Ganztag ganz entscheidend ist: und zwar die Wertschätzung der Schulleitung und des Kollegiums und die entsprechende Haltung. Diese Haltung kommt nicht von allein, sondern muss vermittelt werden.
Online-Redaktion: Sie meinen in der Lehrerausbildung?
Reiter: Genau! Wir im Verband wünschen uns Lehrerinnen und Lehrer, für die das veränderte Arbeiten an einer Ganztagsschule selbstverständlich ist. Dazu gehört, dass schon in der universitären Ausbildung, aber auch verstärkt in der zweiten Ausbildungsphase auf diese Veränderungen in der Schullandschaft eingegangen wird. An meiner Schule treffen wir in Vorstellungsgesprächen immer noch auf Bewerberinnen und Bewerber, die erstaunt sind, dass sie nun an einer Ganztagsschule arbeiten sollen. Wir brauchen aber Lehrkräfte, die mit dem Selbstverständnis „Schule ist Ganztagsschule“ ausgebildet werden.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Kooperationen und Partner
Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000