Wissensspeicher Qualität: Chance Ganztag : Datum:
„Chance Ganztag“ heißt ein aktuelles Jahresheft des Friedrich-Verlages. Die Beiträge beleuchten die Entwicklung der Ganztagsschulen aus verschiedenen Perspektiven der Praxis und der Forschung.
Die Tradition der Halbtagsschule „läuft ihrem Ende entgegen“. So leiten die Herausgeberinnen und Herausgeber das Friedrich-Jahresheft „Chance Ganztag“ ein. Sie möchten mit diesem Sammelband „einen Beitrag zur aktuellen Diskussion wie auch zur pädagogischen Weiterentwicklung“ der Ganztagsschulen leisten (S. 1). Das Jahresheft gibt daher neben einem Überblick über die bundesweite Situation der Ganztagsschulen auch „vielfältige Anregungen zu ihrer pädagogischen Gestaltung“.
Das Heft ist in fünf Kapitel gegliedert:
- 1: Ganztagsschule – der pädagogische Entwurf
- 2: Anders lernen in der Ganztagsschule
- 3: Strukturen und Rahmenbedingungen des Ganztags
- 4: Ganztagsschule als Ort der Kooperation
- 5: Integration als Herausforderung
Mit ihren jeweils fünf bis sechs Einzelbeiträgen beleuchten die Autorinnen und Autorinnen viele wichtige Aspekte der Ganztagsschule und die Herausforderungen, vor denen Ganztagsschulen allgemein stehen, sowohl aus der Perspektive der Ganztagsschulforschung als auch aus der Perspektive einzelner Ganztagsschulen. Nur einige Beiträge sollen hier genannt werden.
So stellt beispielsweise im ersten Kapitel Wolfgang Vogelsaenger, langjähriger Schulleiter der IGS Göttingen-Geismar, das „Ganztagmanagement als Motor für eine neue Schulkultur“ – denn „Schulkultur und Management bedingen sich“ (S. 10) – vor und widmet sich in einem weiterem Beitrag der „Rhythmisierung als Chance“ (S. 22). Der Frage, welche Rolle den Lehrkräften in Ganztagsschulen zukommt, wenden sich im Beitrag „Ganztagsschulen als Orte der Begegnung“ (S. 18f.) Friedrich Jungenkrüger, Schulleiter des Gymnasiums am Bötschenberg in Helmstedt, René Mounajed, Lehrer an der Robert-Bosch-Gesamtschule Hildesheim, und Andrea Ruppert, Schulleiterin der Grundschule Königslutter, zu. Aus der Perspektive der Ganztagsschulforschung zieht schließlich Prof. Klaus-Jürgen Tillmann eine Zwischenbilanz der bisherigen Entwicklung insgesamt – „Ganztagsschulen 2020“ (S. 26ff.) – und plädiert dabei auch für „den weiteren Ausbau des Ganztagsschulsystems“ (S. 28).
Im zweiten Kapitel stellen u. a. Lehrkräfte der Robert-Bosch-Gesamtschule Hildesheim konkrete Angebote des „anderen“ Lernens vor, beispielsweise Beate Lawrenz und Jens Oumard ihr Modell der „Gruppenstunden“ – „Zwischen Mathe und Deutsch hab ich heute Pizzabacken“ (S. 36ff.) – oder Florian Meyer das Potenzial des Fachs Darstellendes Spiel im Ganztag („Eine gute Bühne für Darstellendes Spiel“, S. 48ff.). Martin Pyka von der IGS Roderbruch beschreibt in seinem Beitrag „Sportsnacks im Unterricht. Gute Gründe für mehr Bewegung“ (S. 52ff.) an konkreten Beispielen, wie die Ganztagsschule ein breites Bewegungsangebot realisieren kann.
Die Frage der Organisationsform der Ganztagsschule beschäftigt viele. Daher wird das dritte Kapitel von Prof. Heinz Günter Holtappels mit einer Frage eingeleitet: „Gebundene oder offene Ganztagsschule. Glaubensstreit oder Qualitätsfrage?“ (S. 60ff.). Die so wichtige Frage der Räumlichkeiten behandelt Adrian Krawczyk aus Hamburg („Ganztagsschulen als Räume für zeitgemäße Bildung“, S. 70ff.). Er stellt dafür drei gelungene Beispiele, darunter der Stadteilschule Ehestorfer Weg, vor.
Die Ganztagsschule ist ein Ort vielfältiger Kooperation. Eingeleitet wird das vierte Kapitel von Katja Tillmann von der TU Dortmund mit Forschungsergebnissen aus der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ („Multiprofessionelle Kooperation an Ganztagsschulen“, S. 80f.). Prof. Gunther Graßhoff von der Universität Hildesheim setzt sich in seinem Beitrag mit der Frage der „pädagogischen Laien“ im Ganztag auseinander – „Personal im Ganztagsangebot. Pädagogische Fachkräfte und pädagogische Laien“ –, das heißt, ob z. B. der Trainer aus dem Sport oder der „Förster, der ein Angebot an der Schule macht“ (S. 82), zunächst der pädagogischen Qualifizierung bedarf – eine Frage, die auch im Zusammenhang mit Künstlerinnen und Künstlern an Ganztagsschulen oft gestellt wurde.
Die Perspektive der Schülerinnen und Schüler stellen Daniela Micek und Michael Trauthwein mit dem Projekt „Schüler arbeiten mit Schülern“ der Carl-Benz-Gesamtschule Wörth am Rhein (S. 92ff.) vor. Diese so wichtige Perspektive wird später auch im Kapitel 5 von Prof. Patricia Schuler Braunschweig mit einem Blick auf die Tagesschulen in der Schweiz aufgenommen („Damit es eine Schule der Schülerinnen und Schüler wird“, S. 100ff.). Besonders Jugendliche zeigten in dem Projekt der Stadt Zürich nicht unbedingt Begeisterung, auch noch ihre Freizeit an der Schule zu verbringen, während jüngere Schülerinnen und Schüler wesentlich offener waren. Doch letztlich erwies sich, dass die Akzeptanz der Ganztagsschule von deren Angeboten und den für die Schülerinnen und Schüler gebotenen Möglichkeiten zur Selbstorganisation abhängt (S. 102).
Das (freundschaftliche) „Pro-und-Kontra-Gespräch“ von Anna-Margarete Davis und Wolfgang Vogelsaenger über „Geteilte Verantwortung von freien Trägern und Schulleitung in der Ganztagsschule“ (S. 87f.) spiegelt insgesamt einen Kern der Debatten um Ganztagsschulen: Es gibt vielfach auftauchende Sichtweisen auf die Ganztagsschule wieder und stellt sie bewusst gegeneinander – eine Art Disput um das Funktions- und Rollenverständnis der Institution Schule (Vogelsaenger) und dessen Infragestellung (Davis), etwa zur Rolle der Schulleitung (deren „All-Macht“, die sie allerdings noch nie hatte) oder zur Frage, wer „die einfühlsameren Pädagogen“ sind (S. 87) sind (obwohl es ja eigentlich um Professionalität geht).
Insofern finden sich in dem Jahresheft auch einige bekannte Konstruktionen wie die pädagogische Konkurrenz zwischen Schule und Jugendhilfe oder ein eher konservatives Bild vom Sport oder von „pädagogischen Laien“. Beispielsweise stellt der organisierte Sport von der Sportjugend bis zu den Landessportverbänden schon im letzten Jahrzehnt umfassende und umfangreiche Qualifizierungsangebote für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ganztag zur Verfügung. Kaum eine Rolle spielt leider die Ganztagsschule im Sozialraum, sodass auch die zentrale Rolle der Kommunen als Schulträger leider etwas zu kurz kommt. Dass ostdeutsche Ganztagsschulen trotz ihrer in den neuen Ländern fast flächendeckenden Verbreitung, der hohen Teilnahmequote und ihres – auch durch StEG belegten – guten Abschneidens bei fast allen Qualitätsmerkmalen¹ nicht vorkommen, erinnert an den Titel einer Erzählung aus den 1970er Jahren: „Sind wir ja gewohnt".
Insgesamt bietet das Jahresheft „Chance Ganztag“ einen guten Einblick in die gesamte Palette der Fragestellungen und Diskussionen um die Ganztagsschule und zugleich viele praktische Anregungen und Stimmen aus der Praxis, die hier nicht alle genannt werden konnten. Sogar aktuelle Bezüge zur Ganztagsschule in den Zeiten der Corona-Krise sind dabei, etwa im Beitrag von Wolfgang Vogelsaenger (S. 11), der zeigt, wie sich engagierte Schulleitungen und Kollegien um das Wohl der Kinder und Jugendlichen kümmern.
[1] StEG-Konsortium (2019): Ganztagsschule 2017/2018 Deskriptive Befunde einer bundesweiten Befragung. (PDF, , nicht barrierefrei) Frankfurt am Main, Dortmund, Gießen & München, S. 32ff., 76f., 84ff.