Ganztag mit bestmöglicher Förderung eines jeden Kindes : Datum: Autor: Autor/in: Redaktion

Für die KMK-Präsidentin und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot trägt der Ausbau des Ganztags dazu bei, eine zukunftsweisende Bildungsumgebung zu schaffen. Im Interview spricht sie über Fragen der Qualität.

KMK-Präsidentin und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot
KMK-Präsidentin und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot © KMK / Holger Kiefer

Online-Redaktion: Frau Ministerin, Sie sind seit Januar Präsidentin der Kultusministerkonferenz und haben als Leitmotiv Ihrer Präsidentschaft „Bildung in Zeiten des Wandels – Transformation mutig gemeinsam gestalten“ gewählt. Was sind die Kernpunkte des Wandels?

Christine Streichert-Clivot: In der heutigen Bildungslandschaft stehen wir vor einer Fülle komplexer und miteinander verflochtener Probleme, die eine ganzheitliche und kooperative Herangehensweise erfordern. Das Präsidentschaftsthema des Saarlandes ist daher keine isolierte Angelegenheit, sondern vielmehr ein Aufruf zu einer grundlegenden Debatte über die bevorstehenden Veränderungen im Bildungswesen. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass diese Veränderungen nicht allein die Aufgabe einzelner Länder oder Institutionen sind, sondern eine gemeinsame Verantwortung aller Akteurinnen und Akteure auf nationaler Ebene darstellen.

Zu den zentralen Herausforderungen zählt die Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Die Schule soll nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch ein Ort der persönlichen Entfaltung junger Menschen sein. Es ist entscheidend, unsere Fachkräfte zu stärken, da starke Schülerinnen und Schüler auch starke Pädagoginnen und Pädagogen sowie multiprofessionelle Teams benötigen. In einer globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt ist es darüber hinaus von Bedeutung, dass junge Menschen kompetent mit den neuen Entwicklungen Schritt halten können. Daher müssen wir die digitale Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen gezielt fördern.

Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat dabei für Sie die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder?

Streichert-Clivot: Mit meinem Präsidentschaftsthema möchte ich auch deutlich machen, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass unsere Kinder und Jugendlichen die Welt, die von dynamischen Veränderungen, Diskontinuitäten und Konflikten geprägt ist, verstehen, sie beschreiben, wahrnehmen, an ihr demokratisch partizipieren können und sie aktiv und selbstwirksam mitgestalten können. Hierfür leistet der erweiterte Zeitrahmen der Ganztagsschule und weiterer ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote einen wertvollen Beitrag, wenn er pädagogisch genutzt wird und damit den Kindern erweiterte Lernchancen ermöglicht.

Online-Redaktion: Die Kultusministerkonferenz hat 2023 Empfehlungen zur pädagogischen Qualität der Ganztagsschule beschlossen. Warum ist die Qualität so wichtig?

Streichert-Clivot: Die Interessen und Bedürfnisse der Kinder müssen bei der pädagogischen Gestaltung handlungsleitend sein, das betont auch unsere Beschluss der KMK vom 12. Oktober 2023  mit den „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule und weiterer ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter“. Nach der bundesgesetzlichen Verankerung des Rechtsanspruchs auf ganztägige Förderung und Betreuung für Kinder im Grundschulalter geht es nun darum, dass die Ganztagsangebote die Lebenswelt der Kinder über das Aneignen von Kompetenzen hinaus ermutigend bereichern und nicht auf Betreuungsangebote reduziert werden.

Gemeinschaftsschule Bellevue mit gebundenem Ganztag
Gemeinschaftsschule Bellevue mit gebundenem Ganztag © Gemeinschaftsschule Bellevue Saarbrücken

In diesem Sinne geben die zwölf Empfehlungen der Kultusministerkonferenz Impulse für die Weiterentwicklung der Qualität des formalen, non-formalen und informellen Lernens über den ganzen Tag und benennen, was die pädagogische Qualität umfasst. Hervorgehoben werden beispielsweise die handlungsleitende Rolle der Kinder in der Angebotsgestaltung, die Bedeutung von Wohlbefinden und positiven pädagogischen Beziehungen, die starke Zusammenarbeit der Professionen und Akteure auf der Grundlage eines gemeinsamen Bildungsverständnisses, der Lebenswelt- und Sozialraumbezug sowie eine bedarfsgerechte Raumkonzeption und eine gesunde Mittagsverpflegung.

Online-Redaktion: Der zweite Ganztagskongress des BMBF und des BMFSFJ hat das Thema „Ganztag multiprofessionell gestalten“. Welche Bedeutung hat das pädagogische Personal für die Ganztagsbildung?

Streichert-Clivot: Die starke Zusammenarbeit der Professionen und Akteur:innen auf der Grundlage eines gemeinsamen Bildungsverständnisses ist unabdingbar für gelingende ganztägige Angebote. Grundgedanke ist, dass Bildung und Erziehung keine exklusive Angelegenheit des Unterrichts sind, sondern Lehrkräfte, nicht unterrichtendes pädagogisch tätiges Personal, Schulleitung und Kooperationspartner:innen ihre ganz eigenen Kompetenzen und Perspektiven auf die Bedürfnisse der Kinder mitbringen.

Die Kommunikation in festen Kooperationsstrukturen zwischen den multiprofessionellen Akteur:innen und die Mitwirkung in Entscheidungsgremien trägt zu einer gelingenden Zusammenarbeit und damit zur bestmöglichen Förderung der Entwicklung eines jeden Kindes bei. Sie unterstützt auch die Aneignung von Kompetenzen, die es den Kindern ermöglichen, sozial und verantwortlich zu handeln und sich demokratisch in die zunächst schulische und später in die weitere gesellschaftliche Entwicklung einzubringen.

Online-Redaktion: Wie kann Qualität in Zeiten des Lehr- und Fachkräftemangels gesichert werden?

Streichert-Clivot: Den Lehr- und Fachkräftemangel haben wir in der Kultusministerkonferenz intensiv im Blick. Dem Lehrkräftemangel begegnen wir kurz- und mittelfristig mit einer Vielzahl von Maßnahmen vor Ort in den Schulen. Dazu haben wir in der vergangenen Woche wichtige Beschlüsse gefasst: Wir wollen den Zugang zum Beruf für neue Gruppen öffnen, wie Ein-Fach-Lehrkräfte und Quereinsteigende. Dadurch werden zukünftig mehr Lehrende mit unterschiedlichen Biografien unsere Schulen bereichern. Zudem gestalten wir das Studium praxis- und berufsorientierter, indem wir die Studien- und Vorbereitungsdienstphase stärker verschränken. So stellen wir sicher, dass künftige Lehrkräfte frühestmöglich ihr theoretisches Wissen mit praktischen Erfahrungen verbinden können. Der Weg ins Lehramt wird dadurch flexibler und lebensnaher.

Lernzentrum in Neunkirchen
Lernzentrum in Neunkirchen © Ganztagsgemeinschaftsschule Neunkirchen

Um dem anhaltend hohen und weiter steigenden Fachkräftebedarf in den sozialpädagogischen Berufen zu begegnen, hat die Kultusministerkonferenz ebenfalls große Anstrengungen unternommen. So ist es uns gelungen, die Zahl der Ausbildungsanfänger für den Beruf Erzieher:in in den letzten zehn Jahren zu verdoppeln. Gemeinsam mit dem Bund und der Jugend- und Familienministerkonferenz entwickeln wir weitere Handlungsoptionen und prüfen, wie der Fachkräftebedarf befriedigt werden kann, zum Beispiel durch die bessere Anerkennung und Nutzung ausländischer Berufsqualifikationen oder zielgruppenorientierte Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote. Dabei besteht zwischen allen Beteiligten Einigkeit, dass das Ausbildungs- und Qualifikationsniveau nicht abgesenkt werden darf.

Online-Redaktion: Als saarländische Bildungsministerin haben Sie viele Erfahrungen mit dem Thema Ganztag. Das Saarland hat bereits flächendeckend Schulen mit Ganztagsbetrieb, bei den Grundschulen sind es fast 100 Prozent. Wie ist das gelungen?

Streichert-Clivot: Das Thema ganztägige Bildung und Betreuung spielt im Saarland bereits seit einigen Jahren eine zentrale Rolle sowohl in der Politik der Landesregierung als auch bei den kommunalen Schulträgern. Das ermöglicht uns einen kontinuierlichen Ausbau von Ganztagsschulen. Dieser trägt maßgeblich dazu bei, eine zukunftsweisende Bildungsumgebung zu schaffen. Das wiederum ermöglicht eine individuelle Förderung sowie eine größere Bildungsgerechtigkeit für alle Schülerinnen und Schüler, was zentral für unsere Leitidee der KMK-Präsidentschaft ist, während es gleichzeitig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert.

Nahezu alle allgemeinbildenden Schulen im Saarland verfügen mittlerweile über ein Ganztagsangebot. Sie sind entweder gebundene Ganztagsschulen oder Halbtagsschulen mit einem freiwilligen Nachmittagsangebot, die Freiwilligen Ganztagsschulen. Und genau hier liegt auch der Vorteil: Eltern haben die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Ganztagsangeboten zu wählen, die für ihre individuelle familiäre Situation am besten ist. Aktuelle Anmeldezahlen haben uns gezeigt, dass der Trend auch weiter steigt.

Gebundene Ganztagsschulen eröffnen durch die Ausweitung des Schulbetriebs im Vergleich zu Halbtagsschulen deutlich verbesserte Chancen für individuelles fachliches und soziales Lernen. Diese Struktur bietet Lehrkräften und sozialpädagogischem Personal neue Wege, um eine tiefere Verbindung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Die dadurch entstehende veränderte Lehr- und Lernkultur fördert die Entwicklung moderner Unterrichtsmethoden und unterstützt die Schülerinnen und Schüler dabei, ihr Lernen selbstständig zu organisieren und sich sozial weiterzuentwickeln.

Halbtagsschulen mit freiwillig wählbarem Nachmittagsangebot, auch bekannt als Freiwillige Ganztagsschulen, tragen vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung maßgeblich dazu bei, die Balance zwischen Familie und Beruf zu verbessern. Durch flexible Endzeiten um 15 oder 17 Uhr ermöglichen sie es Eltern, ihre Kinder in einem stabilen Umfeld über den ganzen Tag hinweg gut betreut zu wissen. Auf diese Weise können Eltern ihre familiären und beruflichen Verpflichtungen harmonischer miteinander vereinbaren.

Beide Modelle werden sowohl von Schülerinnen und Schülern als auch deren Erziehungsberechtigten sehr gerne wahrgenommen.

... und individuelles Lernen
... und individuelles Lernen © Britta Hüning

Online-Redaktion: Wie können Schülerinnen und Schüler von Ganztagsangeboten profitieren?

Streichert-Clivot: Grundvoraussetzung ist, dass die Ganztagsangebote in guter Qualität und mit Blick auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder umgesetzt und nicht auf Betreuungsangebote reduziert werden. Darum war es der Kultusministerkonferenz ein großes Anliegen, mit ihren Empfehlungen 2023 den qualitativen Rahmen für die bundesweite Umsetzung des Rechtsanspruchs auf ganztägige Förderung und Betreuung zu schaffen.

So können die Ganztagsangebote ihre großen Potenziale für jeden einzelnen jungen Menschen entfalten, insbesondere zur vertieften individuellen Förderung unabhängig von der sozialen Herkunft, zur umfänglichen Teilhabe, zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Stärkung von positiven sozialen Beziehungen und der psychischen und physischen Gesundheit.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000